Partizipation im Wohnbau ist ein Planungsansatz, welcher sich seit den 1960er Jahren in Europa entwickelt hat. Allen Projekten gemeinsam ist die Mitbestimmung und Gemeinschaftsentwicklung bereits in der Planungsphase über die Errichtung bis hin zum alltäglichen Leben in diesen Wohnbauten.
Die österreichischen und insbesondere die steirischen Projekte, Konzepte, Studien und Tagungen der 1970er bis Anfang 1990er Jahre fanden starke, internationale Aufmerksamkeit. Zahlreiche Exkursionen, Beiträge in Fachmagazinen, Rundfunk und Fernsehen fanden zu den realisierten Wohnbauten statt.
Die Steiermark nahm zu dieser Zeit eine Vorreiterrolle ein. Der neudiskutierte Ansatz der damaligen Zeit war das Thema der Partizipation – das Mitsprachrecht der zukünftigen Bewohner während der Planungs- und Bauphase von Mehrparteienwohnhäusern. In einer ersten Zusammenfassung zum Thema der Partizipation im österreichischen Wohnbau aus der Zeit von Anfang der 1970er Jahre bis Ende der 1980er Jahre sind insgesamt 140 Projekte österreichweit dokumentiert. Die Steiermark sticht mit 47 Projekten und einem resultierenden Anteil von 34% klar heraus. Nach heutigem Kenntnisstand sind bis Anfang der 1990er Jahre insgesamt 60 partizipative Wohnprojekte in der Steiermark realisiert worden.
Baugruppen-Workshop im Architektursommer 2018
Der Aspekt der Mitbestimmung im Wohnbau gewinnt gegenwärtig in der Steiermark wieder an Relevanz. So entstehen derzeit in der Steiermark zwei partizipativ entwickelte Wohnprojekte – KooWo Volkersdorf bei Graz und Leben in Gemeinschaft in Fehring. Darüber hinaus und zur Vertiefung des partizipativen Ansatzes im Wohnbau findet im Rahmen des diesjährigen Architektursommers ein einwöchiger Workshop zum Thema der Baugruppen statt.
Dieser Workshop ist als Experiment angelegt und bietet allen interessierten GrazerInnen eine Plattform um sich für das Thema Wohnen zu engagieren und Ideen auszutauschen. Die Veranstaltung steht unter dem Motto: Wohnen ist eine Aufgabe für alle! Zusammen mit ExpertInnen werden relevante Teilaspekte gemeinschaftlicher Wohnformen diskutiert und eine gemeinsame Wohnvision erarbeitet. Es sollen aktuelle Tendenzen im Wohnungsbau in Graz untersucht und die Fragen „Wie wohne ich?“ bzw. „Wie möchte ich wohnen?“ unter den TeilnehmerInnen diskutiert werden. Im Rahmen des Workshops werden u.a. aktuelle Projekte aus Wien und Zürich von Planern und Bewohnern vorgestellt und themenbezogene Filme gezeigt.
Den Auftakt des einwöchigen Wohnlabor-Workshops bildet eine Führung in der Terrassenhaussiedlung Graz-St. Peter. Die Terrassenhaussiedlung ist die größte zusammenhängende und international bekannteste Wohnsiedlung der Steiermark. Gleichzeitig ist sie die größte EigentümerInnen-Verwaltungseinheit Österreichs mit über 500 Wohnungen und mehr als 1.100 EinwohnerInnen. Die Siedlung wurde im Jahr 1965 unter dem Ansatz der Partizipation der zukünftigen BewohnerInnen durch die Werkgruppe Graz geplant. In den Jahren 1972-1978 konnte sie in zwei Baubabschnitten realisiert werden.
Nach über 40-jähriger Nutzung stellt sich die Frage einer Modernisierung im Sinne einer energetisch, ökologisch und sozial nachhaltigen Ausrichtung. Das Projekt SONTE hat im Sinne der Partizipation gemeinsam mit den BewohnerInnen einen Leitfaden für die Entwicklung der Siedlung für die kommenden 40 Jahre erarbeitet. Die Ergebnisse werden in der oben erwähnten Führung vor Ort vorgestellt.
Darüber hinaus stellt sich aktuell die Frage, was aus dem Erfahrungsschatz der letzten 40 Jahre der Terrassenhaussiedlung aber auch der weiteren 60 partizipativen Wohnprojekte in der Steiermark für neue Projekte gewonnen werden kann. Sicher ist, dass partizipativ entwickelte, gemeinschaftliche Wohnformen einen wertvollen Beitrag für unsere Gesellschaft leisten können.
Ein erster Schritt ist durch die beiden im Aufbau befindlichen Wohnprojekte und durch das Wohnlabor gesetzt. Möge das weitere Experiment gelingen.