Im Sommer 2015 hatte ich die Gelegenheit, die nach dem Bürgerkrieg 1975–1990 wiederaufgebaute Stadt Beirut zu besuchen. Bereits vor Ende des Bürgerkrieges hatte die Amerikanische Universität Beirut – ein Universitätskomplex im Zentrum von Beirut – im Jahre 1985 zu einer in die Zukunft blickenden Konferenz mit dem Titel Beirut of Tomorrow eingeladen. Im Rahmen einer rück- und vorausblickenden Gesamtsicht wurde die mögliche städtebauliche Entwicklung von Beirut von einer Reihe von Vortragenden beleuchtet. Mein Beitrag zum Kongress war damals ein Text unter dem Titel An Organic Approach to Urban Planning – the Twofold Concept of Movement.
In meinem Vortrag versuchte ich, die Charakteristik einer orientalischen Stadt, dargestellt am Beispiel von Beirut, durch ihr ausgeprägtes Kommunikationsbedürfnis hervorzuheben, das einerseits durch die topographischen Bedingungen einer über 50 Kilometer ausgedehnten Küstenstadt zwischen Mittelmeer und Libanongebirge, andererseits durch ein betont urbanes Leben im Zentrumsbereich bestimmt ist. Diese kompakten Stadtteile sind durch ihre Multifunktionalität gekennzeichnet, in denen basierend auf einem engen Wegenetz eine funktionelle Überlagerung von Arbeit, Wohnen und Geschäftsfunktionen seit jeher gegeben ist. Im besonderen kommt das in den Souks zum Ausdruck, den Basaren mit vielfältigen Angeboten an Waren und Dienstleistungen. Dass über die funktionellen und technischen Bedürfnisse des Verkehrs hinaus der symptomatischen Bewegung eine essentielle Rolle bei der Strukturbildung der Stadt zukommt, habe ich als eine Maxime für den Wiederaufbau der Millionenstadt postuliert:
„The whole space oft he town belongs to the inhabitants who morally have a right to use it. The town is communication, particulary an Arab town like Beirut, which has, despite modernization, to restore its communicative charcter through sensitive reconstruction. We have to remark that the principle of quick movement is the straight line and that of the slow and more communicative movement is the curved line. The daily, weekly and monthly activities require overlapping of circulation lines, the straight and the curved, to create a network of “time – patterns“, representing the whole urban life“.
Darauf, wie diesen Anforderungen bei der Neugliederung der Stadtstruktur bisher entsprochen wurde, will ich noch im weiteren eingehen (Teil 2).
Zunächst möchte ich auf das von mir kürzlich rezensierte Buch Urbanität durch Dichte? von Karen Beckmann (s. Artikel unten) Bezug nehmen und die neuere Entwickung von Großwohnkomplexen in England beleuchten. Nochmals rückgreifend auf die von der Stadtwissenschaftlerin formulierte Aussage, dass England das Ursprungsland von multifunktionalen Großwohnkomplexen in der Aufbauphase nach dem 2. Weltkieg ist, erscheint mir gerade die Parallelität mit der urbanen Komplexität einer orientalischen Stadt schlagend. Dabei erweist sich eines als besonders signifikant: der ausgeprägte Naturbezug zu einem charkteristischen Raum, der selbt als Transformation früherer Zustände eine historische Dimension enthält. Diese Beobachtung soll im Titel dieses Textes zum Ausdruck gebracht werden: Stadt in Bewegung.
Großwohnkomplexe in England
Barbican Center, London
Ein Überblick über urbane Großwohnkomplexe in England kann nicht am Barbican vorbeigehen, das in Ost-London nahe St. Paul`s zwischen 1971 und 1982 errichtet wurde. Der betroffene Stadtteil wurde im 2. Weltkrieg besonders durch Bomben zerstört, sodass ein Wiederaufbau auf der Grundlage einer neuen Baustruktur notwendig erschien. Schon in den 1950er-Jahren wurde ein Wettbewerb durchgeführt, der vom Atelier Chamberlin, Powell, Bon gewonnen wurde und Grundlage der Bebauung darstellt. Diese bestimmt als Barbican Estate, ein kompaktes Wohnquartier, einen ganzen Stadtteil. Kern der Anlage ist das Barbican Center, das als größtes multifunktionales Veranstaltungszentrum Europas mit Konzertsälen, Theater, Galerien, Kinos und sonstigen künstlerischen Angeboten angesehen wird.
In seiner baulichen Erscheinungsform im Stile des New Brutalism kommt eine starke Differenzierung der Baumassen zum Audruck, von den Großräumen wie Konzertsälen bis zu den diese umschließenden Wohn- und Geschäftsbaulichkeiten in kleinerer Strukturierung. Dabei weisen die Ränder jene historische Verzahnung auf, die sich auch im Maß der Verdichtung der Baustruktur darstellt. Diese Multifunktionalität beruht bis heute auf einem Time-Pattern, der die hohe Erreichbarkeit durch eine U-Bahnstation sichert und andereseits den Nutzern des Quartiers alle notwendigen Infrastruktureinrichtungen im Nahbereich anbietet. Darin kommt das von mir in Beirut angesprochene „zweifache Konzept der Bewegung“ zum Ausdruck, das in vertikaler Differnzierung die schnellen Bewegungen unter Terrain und die langsame Erschließungsmobilität in mehrern Obergeschoßen – von Individual- bis Fußgängerverkehr – dem nutzungsbezogenen Stadtraum vorbehält. Das Barbican zeigt somit alle Merkmale eines Urban Compound, einer Mischstruktur, die ihre öffentliche Akzeptanz bis heute einer Überlagerung von zeitspezifischen Nutzungsstrukturen verdankt – akkumulierte öffentliche Nutzung durch Events und konstante private Nutzung durch den in das Center integrierten Wohnkomplex.
Lillington Gardens, London
Von anderer Erscheinungsform als Einbettung in einen historischen Time-Pattern ist das Lillington Gardens Estate in Pimlico, Westminster, nahe der Themse. Es wurde in den Jahren 1961-1980 von den Architekten Darbourne und Darke als räumlich differezierter Wohnkomplex in Ziegelbauweise errichtet, wobei die Hofbildungen mit Begrünung und die Höhenbegrenzung auf 3 bis 4 Geschoße der Anlage einen kleinstädtischen Charakter geben. Ausweitungen und Verengungen leiten den Weg durch die Wohnanlage, die dem individuellen Wohnbedürfnis durch unterschiedliche Wohnungstypen nachkommt und komunikative Räume in Form kleiner Nachbarschaften schafft. Dabei korrespondieren Außen- und Innenräume, indem Loggien und begrünte Terrassen die Lebens- und Wahrnehmungsqualität erhöhen.
Die Einbeziehung einzelner Altbauten wie einer kleinen Kirche, St.James the Less, 1859 in Backstein errichtet, und die Mehrfachnutzung vor allem in der Erdgeschoßzone zeigen die deutliche Tendenz zu einem Urban Compound, das die funktionalistische Planungspraxis der Nachkriegszeit überwindet. Nikolaus Pevsner bezeichnete schon 1973 die Wohnanlage, die schließlich unter Denkmalschutz gestellt wurde (Grade II), als „the most interesting housing scheme in London“. Gerade auch die Einbettung in den historischen Kontext der angrenzenden Victorian Terraces ist aus heutiger Sicht bemerkenswert, wobei die aus den Nordländern aufgenommenen „brutalistischen“ Einflüsse des Backsteinbaues gerade zur Zeit der Errichtung die Zeitaktualität repräsentieren.
Die im Sommer 2015 von mir nach England unternommene Reise veranlasste mich, den Spuren nach multifunktionellen Komplexen nachzugehen, wobei die Stationen London, Portsmouth und die Kanalinsel Guernsey waren. An allen diesen Stationen zeigte sich, dass aktuelle Großwohnkomplexe vor allem an ausgesuchten Orten errichtet wurden, die einen ausdrücklichen Naturbezug haben. Im Besonderen ist es der Bezug zum Wasser, der durch frühere Bebauungsformen schon aufgefunden wurde, jedoch als kommunikationsbetonte Raumfelder neu interpretiert wurden.
Den meisten London-Besuchern der letzten Zeit sind die Banks-Verbauungen an der Themse vertraut, die diese ehemalige Industriezone zu einem attraktiven Ort mit kulturellen Einrichtungen, Restaurants, Wohnungen und neuerdings einer Gondelverbindung über die Themse machten.
St. George`s Wharf, London
Im Süden Londons, Vauxhall, in unmittelbarer Nähr der Vauxhall-Bridge in Pimlico, ist in den letzten Jahren ein Großwohnkomplex St. George`s Wharf entstanden. Er wurde von einem englischen Projektentwickler, Berkerly`s Group, unter Heranziehung englischer Architekten sowie des Niederländers Rem Koolhaas errichtet. Auffallend ist die Kulisse, die sich dem Betrachter vom gegenüberliegnden Themse-Ufer bietet: vier verglaste Hochhaustürme ragen aus einer Blockbebauung hervor, die sich als die gekoppelte U-förmige Bebauungsstruktur erweist. Dadurch wird nahezu allen Wohnungen eine Sichtbeziehung zur Themse gewährleistet, wobei diese in Form von Terrassen und Balkonen den Komplex plastisch moduliert.
Die Erschließung durch den Individual- wie den öffentlichen Verkehr erfolgt von einer dem Themseufer folgenden Parallelstraße, von der die Tiefgaragen zugänglich sind. Das Ufer wiederum ist als Promenade ausgebildet, die eine eigene Schiffstation aufweist und sich als Grünzone in die U-förmigen Höfe hineinzieht. Meherere fußläufige Querverbindungen sorgen für Durchlässigkeit, wobei diese durch Einrichtungen in der Erdgeschoßzone wie Cafes, Restaurants, Fitnessstudios und Geschäfte aktiviert wird.
Bis auf einen die Anlage im Süden abschließenden ausgerundeten Tower – das höchste Wohngebäude Londons –, der exklusiven Appartements vorbehalten ist, charakterisiert den ganzen Komplex die Mehrfachnutzung. Sie knüpft an eine vergangene Baustruktur an, die als singuläres Backsteingebäude einer ehemaligen Fabrik heute als Pub dient, das auf die Wahrung historischer Spuren wie ein Eisengitter des Eingangs bedacht ist.
Die Anlage ist einem höherpreisigen Wohnbau zuzuordnen, der bei entsprechender Ausbauqualität stilistisch als Hybrid zwischen Postmoderne und High Tech anzusehen ist. Während die unteren Geschoße in Stein ausgeführt sind, hüllen sich die Obergeschoße in Glasfassaden. Wenn dieser Bau, durch einen betonten Naturbezug ausgezeichnet, auch nicht symptomatisch für den überwiegenden heutigen Wohnbau in England anzusehen ist, zeigt sich deutlich die Abkehr von brutalistischen Tendenzen der Nachkriegsjahre.
Im Augenblick ist eine heftige Kontroverse in England im Gange, die den schlechten Erhaltungszustand vieler beachtenswerter Wohnanlagen der Boom-Zeit – Errichtung der New Towns – mit sozialem Niedergang in den Betonbauten in Verbindung bringt. Gleichzeitig schätzt die architektonische Fachwelt umso mehr die früheren Qualitäten des Sozialwohnbaus, der wie das Brunswick Center und das Barbican Center unter Denkmalschutz gestellt werden. Allerdings sind dort, da es multifunktionale Nutzungen rechtfertigte, größere Sanierungsarbeiten der Sichtbetonfassaden und der technischen Ausbauten vorgenommen worden.
Gunwharf Quays, Portsmouth
Schon vor nahezu einem einem Viertel Jahrhundert hat die südenglische Hafenstadt Portsmouth, die über weitläufige Docks verfügt, eine Transformation des Hafengeländes in eine multifunktioinale Seestadt geplant. Während die militärisch genutzen Docks teilweise als Marinemuseum eingerichtet wurden – mit Orginalschiffen wie dem ersten hochseetauglichen Panzerschiff, die HMS Warrior – wurde der zivile Hafenbereich als Wohnstadt mit Geschäftsbereich und touristisch genutzten Einrichtungen versehen. Die Verzahnung mit erhaltenen Wasserläufen verleiht dem dicht genutzen Gelände den Eindruck einer Lagunenstadt, was durch die vorgelagerte Insel Wright verstärkt wird. Von einer 170 m aufragenden Landmark, dem Spinnaker Tower vom Designbüro Scott Wilson, ist der gesamte, von Shoppng Mall, Lagerhäusern, Wohnbauten, Freiluftmuseum und touristischen Anlagen wie Schiffsanlegestationen gebildete Bereich, zu überblicken.
Die Architektur, abgesehen von einem in seiner Ausrundung auffallenden Gebäude, ist in baulicher Ausführung und Material konventienell, zeigt aber die Merkmale eines für 24-Stunden Nutzung ausgelagten Time Pattern, der in der „Taktung der Bewegungen“ (nach Ludger Schwarte) den funktionell abgegrenzeten Raum überlagert und eine „architektonische Maschine“ schafft. Die Akzeptanz durch die Bevölkerung wie Besucher lässt die Gunwharf Quays zu einem Modellprojekt multifunktionaler Großwohnkomplexe in Europa werden.
Ende Teil 1