Anlässlich der aktuellen Ausstellung Graz Architektur. Rationalisten, Ästheten, Magengrubenarchitekten, Demokraten, Mediakraten im Kunsthaus Graz machte sich Eugen Gross, Architekt und seit vielen Jahren aufmerksamer Beobachter und Kommentator der Grazer Architektur, Gedanken über das vielleicht Besondere an der Architektur aus Graz. Seine Überlegungen teilte er am 11. Jänner 2018 im HDA mit einem interessierten Publikum.
Eine wesentliche Kontextualisierung, aufschlussreich vor allem für jene, die die Entstehungszeit der in der Ausstellung gezeigten Ikonen der Grazer Architektur nicht selbst miterlebt haben, waren Gross’ Anmerkungen zu dem Umfeld in dem das, was heute unter dem schillernden Begriff der Grazer Schule bekannt ist, seinen Ursprung hat. Nach dem 2. Weltkrieg war das Umfeld in jeder Hinsicht – ökonomisch, durch Emigration vor und nach dem Krieg intellektuell und durch eine konservative Grundstimmung – alles andere als geeignet für die Weiterführung des optimistischen und progressiven modernen Geists, der in den 1920er Jahren für eine kurze Zeit herrschte. Wie in den frühen 1990er Jahren im anarchischen Wende-Berlin und heute etwa in Belgrad oder Athen konnte in dieser Phase eine widerständige Subkultur entstehen, die sich in der spartenübergreifenden Initiative des Forum Stadtpark manifestierte. Sie strebten neben der „Erfüllung eigener künstlerischer Intentionen“ vor allem eine „Veränderung der politischen Realität“ an. Zugleich und kausal verbunden differenzierte sich die Grazer Architekturausbildung an der Technischen Hochschule stark vom Wiener Meisterklassen-System. Der heterogene Aufbau der Institute und die autonomen Architekturzeichensäle bereiteten ein intellektuelles Ökosystem, in dem eine kritische Studentenschaft als gleichwertiger Gegenpol zu den Professoren entstehen konnte. Diese demokratischen Strukturen bildeten die Grundlage für radikale und experimentelle Projekte, die die Gesellschaft verändern wollten, die explizit politisch waren.
Dualismen
Gross beschreibt die Genese des Spezifischen in der Grazer Architektur anhand mehrerer Dualismen, zwischen denen er die in der Ausstellung gezeigten und weitere einflussreiche Projekte einordnet. Den ersten Dualismus bilden die zwei Konzepte, die 1967 in einer Gemeinschaftsausstellung im Forum Stadtpark vorgestellt wurden und das Feld für eine „Grazer Haltung“ aufspannten. Mit Kristallisationen, vertreten durch die strukturalistische Herangehensweise „geometrischer Raumdurchdringungen“ der Werkgruppe Graz, und Propositionen, repräsentiert durch die „räumlichen Großskulpturen mit flexiblen Raumzellen“ von Günter Domenig und Eilfried Huth wird eine, den urbanen Kontext in das Zentrum rückende Gegenposition zu den individualistischen Werken in Wien definiert. Die Grazer Architektur ist stets in die Geschichte eingebettet, auf den Genius loci ihres Entstehungortes vertrauend anstatt auf Zitate von außerhalb, konstatiert Gross. Innerhalb des aufgespannten Spektrums betrachtete er die Projekte in seinem Vortrag anhand zweier grundlegender Aspekte, die die Architektur bestimmen: wie sie programmatisch mit der Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft umgeht und inwiefern sie dabei auf ein demokratisches Gesellschaftsbild und ihrer sinnlichen Wahrnehmung abzielt.
Die im Kunsthaus präsentierten Projekte unterteilt er in vier Gruppen, die die Heterogenität der Grazer Schule verdeutlichen und zugleich ihr großes Gemeinsames – den Willen die Gesellschaft durch die Bearbeitung des Raumes zu verändern, zu öffnen und zu demokratisieren – unterstreichen. Offene Raumstrukturen wie das Projekt Stadt Ragnitz von Domenig und Huth (1967) und dessen Vorgänger Struktureller Städtebau von Bernhard Hafner (1966), die, beide unrealisiert, die Stadt als neutrales Netz definieren und damit eine sich ständig verändernde Gesellschaft vorausdenken. Die zweite Gruppe ist die der expressiven Formaussagen, deren Hauptvertreter Domenig und Huth (Katholische Akademie Graz, 1966 und Pfarrzentrum Oberwart, 1969), später stärker gestisch arbeitend Domenig allein, und eine Generation später Michael Szyszkowitz und Karla Kowalski sind. Als dritte Gruppe nennt Gross ökologische Experimentalprojekte wie das Haus Fischer bei Grundlsee von Konrad Frey (1978), die die ökologische Wechselbeziehung von Mensch und Umwelt in das Zentrum des Entwurfs stellen, und als vierte schließlich digitalisierte Entwürfe, wie das nur in der digitalen Welt existierende Binäre Haus von Wolf-Plottegg (1988).
time pattern
Nach einer kurzen Pause an der Bar – womöglich eine Reminiszenz an das Theater, dem Eugen Gross durchaus zugeneigt ist – ergänzte dieser in einem zweiten Teil diese Einteilung, die den mit der Materie vertrauten Zuhörer nicht besonders überrascht, durch eine viel außergewöhnlichere zweite, die stark auf seine Überlegungen zu time pattern basiert. Erst durch ihre Rezeption in der Zeit werde die Architektur in ihren sozialen und kulturellen Kontext gestellt und dadurch vollständig – wenn auch nie abgeschlossen. Der Lebenszyklus spielt nicht nur in der ökologischen Betrachtung (Stichwort Cradle-to-Cradle) eine Rolle, sondern auch in der kulturellen, künstlerischen und gesellschaftspolitischen Funktion von Architektur. Erst mit der Zeit werden der architektonische – und der mit ihm verbundene gesellschaftliche – Entwurf durch Nutzung und Rezeption vollständig. Gross verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff time pattern, dem er sich in mehreren Texten (auch auf GAT, s. Artikel unten) angenähert hat. Unter time pattern versteht er Zeitrhythmen, zyklische progressive und regressive Phasen, die die „Zeiterscheinung“ von Architektur bestimmen. Er bezieht sich dabei auch auf den Autor Philipp Blom und postuliert für Architekten, dass wir den „Blick aus dem Morgen auf das Jetzt“ richten müssen.
Abermals unterscheidet Gross zwischen vier Gruppen: Entwürfe, die nie realisiert wurden, Bauten, die verschwinden, Bauten, die einer Notwendigkeit der Zeit folgend, einem Relaunch unterzogen werden, und Bauten auf Bewährung.
Als Beispiele für unrealisierte Entwürfe nennt er das Projekt der Werkgruppe Graz für den ersten Städtebauwettbewerb Österreichs in Innsbruck Völs (1962/63) und das Atelierhaus Forum Stadtpark am Rosenberg (1966), das an organisatorischen Voraussetzungen scheiterte. Komplexe Entwürfe wie diese würden häufig durch die Kompliziertheit ihrer Umsetzung eingeschränkt oder verhindert (ein weiteres interessantes Begriffspaar). Ebenso zählt der Entwurf für das Trigon-Museum im Grazer Pfauengarten von Schöffauer und Tschapeller (1988) dazu, dem bis 2003 weitere Versuche folgen sollten, ein Haus für zeitgenössische Kunst in Graz zu errichten.
Zu den verschwundenen Bauten zählt er etwa das Haus Albrecher-Leskoschek von Herbert Eichholzer (1937), das zuerst durch Umbauten überformt und 2017 für eine Erweiterung des LKH Graz abgerissen wurde, aber auch Gebäude, deren architektonische Bedeutung verloren gegangen ist, die materiell allerdings noch bestehen – als Schatten ihrer selbst: das Studentenheim Hafnerriegel der Werkgruppe (1961), das unsensibel umgebaut und (mit dem symbolträchtigen Abriss der Außentreppe aus Sichtbeton) in seiner Erscheinung als Frühwerk der Grazer Moderne 2013 verschwand, sowie das Forschungszentrum der VOEST Alpine in Leoben von Huth und Domenig (1969), das „zu Tode saniert“ wurde.
Dieser Gruppe stellt er Bauten gegenüber, die durch einen Relaunch in einen neuen Lebenszyklus eintreten konnten. Sie stechen in ihrem Erscheinungsbild aus dem Hintergrund der Stadt hervor und erfahren eine Neubewertung, Adaption oder Verbesserung, durch die sie sich dem zeitbedingten Wandel der Umstände anpassen können – vorausgesetzt ihre baukulturelle Relevanz wurde rechtzeitig erkannt. Dieser Gruppe ordnet er neben dem signifikanten Eisstadion Graz-Liebenau von Ilgerl, Peneff und Walch (1963), dem benachbarten Stadion vom TEAM A Graz (1997), der Stadthalle von Klaus Kada (2002) auch den Hauptbahnhof Graz mit der Nahverkehrsdrehscheibe von Zechner & Zechner (2003, 2011) zu, dessen denkmalgeschützte Haupthalle aus den 1950er Jahren bei allen Umbauten als Fixpunkt einbezogen und dessen Funktion als Mobilitätsknoten kontinuierlich weiterentwickelt wurde. Und die Terrassenhaussiedlung der Werkgruppe (1965-78), die als nun 40 Jahre alte „konkrete Utopie“ im Rahmen eines Forschungsprojekts für die, vor allem energetisch gänzlich anderen, Anforderungen der nächsten 40 Jahre vorbereitet wird. Das Projekt erforscht gemeinsam mit den BewohnerInnen, welche Maßnahmen im Einvernehmen mit dem Denkmalschutz ergriffen werden können und sollen.
Die vierte Gruppe, Bauten in der Bewährung, charakterisiert Gross als Bauten die als „Aufforderung an die Gesellschaft […], der Architektur jenen Stellenwert einzuräumen, der dem künstlerischen Anspruch entspricht“ wirken. Er nennt das Institutsgebäude Heinrichstraße der Universität Graz von Kapfhammer, Wegan und Kossdorff (1991), das zeichenhaft ein „ins Wanken geratenes rechtwinkelig geordnetes Weltbild des linearen Fortschrittsglaubens“, aber zugleich ein „Vertrauen in die Statik architektonischer Formen“ vermittelt. Als weitere Bauten dieser Kategorie zählt er die Synagoge Graz (Jörg und Ingrid Mayr, 2000), die Auster Graz (Fasch & Fuchs, 2013), das Schlesische Museum Kattowitz (Riegler Riewe, 2015), die Great Amber in Liepaja, Lettland (Volker Giencke, 2015), die Eggenberge (Pentaplan, 2016), die sensible Neugestaltung, Renovierung und Restaurierung rund um die Basilika Mariazell (Feyferlik Fritzer, 1992 - 2017), den Science Tower (Markus Pernthaler, 2017), das noch vor seiner Realisierung stehende CubeHouse (Andrea Vattovani) und das von Gross selbst entworfene Haus code 22,5 am Rosenberg (2017) auf.
Zum Abschluss zitierte Eugen Gross Romano Guardinis Briefe vom Comer See von 1937: „Unser Platz ist im Werdenden. Nicht uns gegen das Neue stemmen und eine schöne Welt bewahren suchen, die untergehen muss. Auch nicht abseits aus phantasierter Schöpferkraft eine neue bauen wollen, die gleich von den Schäden des Werdenden frei sein möchte. Wir haben das Werdende umzuformen.“ Als Kunst müsse Architektur stets eine Balance zwischen dem Zurückschauen und dem Vorausschauen finden. Sie sei aber auch nicht allein Ergebnis eines Entwurfs- und Bauprozesses, sondern ein „künstlerisches Phänomen, das einen Wahrnehmungs- und Nutzungsprozess einschließt“. Als „in gleicher Weise ein Zeit- wie ein Raumobjekt“ ist Architektur nie ewig. Sie erneuert sich ständig.