08/03/2018

Leuchtendes bei der Diagonale 2018

Festival des aktuellen österreichischen Filmschaffens

13.–18. März 2018
in Grazer Kinos

Empfehlungen
von Emil Gruber

08/03/2018

* von Johann Lurf, Innovatives Kino, AT 2017, 99 min

©: sixpackfilm_Johann Lurf

so leben wir – botschaften an die familie, Dokumentarfilm, AT 2017, 107 min, OmdU

Looking for Oum Kulthum, Spielfilm, DE/AT/IT/LB/QT 2017, 90 min, OmdU

Waldheims Walzer, Dokumentarfilm, AT 2018, 93 min, 15.3. OmdU / 17.3. OmeU

Murer – Anatomie eines Prozesses, Spielfilm, AT/LU 2018, 137 min, 13.3. dOV / 17.3. OmeU

©: Prisma Film/ Patricia Peribanez

Tarpaulins, Dokumentarfilm, AT/US 2017, 78 min, OmeU

Narrating Hebron, Dokumentarfilm kurz, PS/IL/AT 2017, 21 min, OmeU

Operation Jane Walk, Dokumentarfilm kurz, AT 2017, 21 min, 15.3. eF / 18.3. dF

Die Untoten von Neuberg, Dokumentarfilm, AT 2018, 60 min

Johann Lurf fiel immer schon mit Umdeutungen von Orten auf. In Embargo umschwebt eine Kamera, begleitet von einem deliranten Sound, Standorte der österreichischen Waffenindustrie. Picture Perfect Pyramid erforscht in formaler Strenge ein solch vollendetes Bauwerk, nur diese Pyramide steht in Vösendorf bei Wien und ist ein nachgekautes Multikonsumheiligtum.
Zu einem enigmatischen Territorium wird in Reconnaissance ein aufgelassenes Torpedoversuchsgelände in Kalifornien.
Auf der heurigen Diagonale stellt der Harun Farocki-Schüler sein Magnum Opus * (ja, das ist der Titel) vor. Acht Jahre lang dauerte die Produktion und zeigt den einzig dauerhaften dennoch nie vollendbaren Entwurf, den wir Menschen kennen, den Sternenhimmel. * ist eine hundertminütige Reise ins Weltall, montiert und kompiliert aus Konstruktionen von 553 x   Filmgeschichte. Vom frühen Stummfilm (Rêve de la Lune aus 1905) bis zum aktuellen Science Fiction Blockbuster, Lurf zeigt die Stars, die immer oben bleiben.
Für die Diagonale-Intendanten Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber ist Lurfs Himmelfahrt einer der außergewöhnlichsten Filme seit Bestehen des Festivals. * wird als Mitternachtsvorführung am Samstag dem 17.3.2018 zu sehen sein. Zusätzlich gibt es als Vorfilm ein Breitband-Augenmittel: den Kurzfilm Arena von Björn Kammerer in einer seltenen 70 mm Kopie. (Das KIZ besitzt als eines der ganz wenigen Kinos in Österreich noch ein Vorführgerät für dieses Filmformat)

Zum achtzehnten Mal zeigt die Diagonale wieder die bewährte Mischung aus Ur- und Erstaufführungen, Höhepunkten des vergangenen Kinojahres, Specials und Retrospektiven. Eine Neugestaltung hat diesmal der Katalog erfahren. Erstmals ist er offiziell in einem Verlag (Czernin) erschienen und beinhaltet neben der Festivalübersicht auch Essays und Stellungnahmen zur aktuellen politischen Situation in Österreich. Im Wettbewerbsbereich halten sich heuer beim Langfilm Spiel- und Dokumentarfilm mit jeweils knapp über zwanzig Produktionen die Waage. Insgesamt werden 81 Filme ihre Premiere bei der Diagonale feiern, 47 sogar ihre Uraufführung.
In so leben wir – botschaften an die familie flirren Amateurfilme aus Archiven mehrerer europäischer Ländern – von der 8 mm Ära bis zur aktuellen digitalen Gegenwart. Gustav Deutsch durchbricht diese privaten Geschichtserzählungen mit selbstgedrehten Material. Er begleitet Mostafa Tabbou auf einer Reise von seinem aktuellen Wohnort in den Niederlanden zu seiner Familie nach Marokko.
Noch bis 22.4.2018 läuft in der Neuen Galerie die beeindruckende Fotoausstellung zur Rolle der Frau im Iran Frauen in Gesellschaft von Shirin Neshat. Im Rahmen der Diagonale wird die Künstlerin auch persönlich ihren neuen Spielfilm Looking for Oum Kulthum über die gleichnamige Sängerin, die als Maria Callas der arabischen Welt verehrt wurde, als Österreichpremiere präsentieren.
Ruth Beckermann kommt schon prämiert zum Festival. Ihr Essay Waldheims Walzer zu dem politischen Konflikt der 1980er Jahre wurde als bester Dokumentarfilm bei der Berlinale ausgezeichnet und erlebt in Graz seine Österreichpremiere.
Einen weiteren Querverweis auf das was war und noch immer nicht wirklich weg ist, gibt die Diagonale mit dem Eröffnungsspielfilm von Christian Frosch Murer – Anatomie eines Prozesses. 1963 war Graz beim Versuch der Aufarbeitung eines rabenschwarzen Kapitels aus der NS-Zeit der Schauplatz eines unfassbaren Justizskandals.

Um ein paar Filme mit Architekturbezug zu erwähnen: Die zahlreichen Holzbauten in Los Angeles haben einen praktisch unsichtbaren Feind. Termiten haben eine nahrhafte Quelle darin entdeckt. Als Gegenmaßnahme werden befallene Objekte vollständig verhüllt und mit Gas befüllt. Tarpaulins heißen diese Großzelte, die schon einmal in den Farben der amerikanischen Nationalflagge im Stadtbild von L.A. auftauchten. Lisa Truttmann begleitete zwei Jahre lang solche „temporäre Skulpturen“.
Im dystiopischen Science Fiction Film Life Guidance werden nicht systemkonforme Menschen in Schlafburgen, „deren Architektur an Wiener Gemeindebauten aus den 1920er-Jahren erinnert“ (Ruth Mader, die Regisseurin, dazu im Katalog).
In Narrating Hebron durchstreift Viktoria Bayer das Zentrum der zerrissenen Stadt im Westjordanland. Als ein „Grenzgang des Dokumentarischen – Game Culture trifft auf Urbanismus, Stadtplanung und Architektur“, sehen Leonhard Müllner und Robin Klengel ihre Operation Jane Walk: Eine New York-Erforschung der anderen Art.
In den Specials wirft Kein schöner Land einen facettenreichen Rückblick auf die Darstellung von Provinz ab 1968. Das ist der Zauber der Saison untersucht Tourismusbilder im österreichischen Film seit der Nachkriegszeit. Tribut wird heuer Amos Vogel gezollt. Der 1938 aus Wien vertriebene Kurator, Festivalleiter und legendärer Gründer des New Yorker Cinema 16 Filmclubs gilt als Wegbereiter des künstlerischen Films in den USA.
Durchaus ähnliches für Österreich kann man vom 1978 in Wien gegründeten Filmladen behaupten. Bis heute ist das Unternehmen einer der größten Verleiher österreichischer Spiel- und Dokumentarfilme. Die Gründungsmitglieder Herbert Aichholzer, Ruth Beckermann, Franz Grafl und der seit 1985 geschäftsführende Michael Stejskal werden in Werkstattgesprächen anwesend sein.
Einen ersten Einblick in ein anderes Monumentalwerk wird der Dokumentarfilm Die Untoten von Neuberg von Ulrich Reiterer geben. Im Vorjahr wurde als Projekt des steirischen herbst Elfriede Jelineks Roman Die Kinder der Toten von der amerikanischen Künstlertruppe „Nature Theater of Oklahoma“ verfilmt. Mit Die Steiermark hasse ich am allerwenigsten kommt auch die Literaturnobelpreisträgerin in einem zweiten Feature ausführlich zu Wort.

Passend zur Diagonale zeigt das Künstlerhaus derzeit Was vom Kino übrig blieb. Dem Filmemacher Norbert Pfaffenbichler ist gemeinsam mit Sandro Droschl eine Ausstellung gelungen, die zu den besten der letzten Jahre an diesem Platz gehört. Sie feiert das Medium und scheut sich nicht das Triviale mit dem Erhabenen zu mixen. Da lässt Joseph Beuys Filmrollen von Ingemar Bergmanns Das Schweigen in Blei gegossen für immer verstummen, unweit davon reißt das „Vaginamonster“ des Art-Trash Filmemachers Jörg Buttegereit das hungrige Maul auf. Ryusuke Ito bringt Ironie in die Special Effects großer Hollywood-Schinken, Mika Taanila zerstört behutsam für eine Neudeutung Filmbücher. Die Immerlederjacke des verstorbenen Avantgardefilmemachers Kurt Kren hängt für immer an einem Haken, während an einer anderen Wand eine Slideshow hunderter, ausgeschnittener Filmkader als Nachklang einer obsessiven Sammelwut eines Unbekannten läuft. Und Spiel mir das Lied vom Tod als brachial gekürzte Zehnminuten-Version auf einem alten Röhrenapparat im 4:3 Format zu sehen, schmerzt so sehr, dass es schon wieder gut tut.

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