15/12/2021
15/12/2021

An Frau Bürgermeisterin Elke Kahr
An Frau Bürgermeisterin-Stellvertreterin Mag. Judith Schwentner
Hauptplatz 1, Rathaus, 8010 Graz                                

10. Dezember 2021

Offener Brief:
Bürgerrechte:
Stadtpolitik als Moderation einer Entwicklung

Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Kahr!
Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin-Stellvertreterin Schwentner!                   

Nachdem ihr Vorgänger (als Bürgermeister) Siegfried Nagl nach der Gemeinderatswahl seine „schützende Hand“ von der Stadt zurückgezogen hat, möchte ich an die Reihe von „offenen Briefen“ erinnern. Die darin vorgestellte Analyse der Stadtentwicklung von Graz hat nichts an Aktualität verloren. Die angeschlossenen Fragen (Widmungsgewinne, Bodenverbrauch, Garagen in der Altstadt, Verkehr, Entwicklungsgebiete…), die ich an den Altbürgermeister Nagl  gestellt habe, sind unbeantwortet geblieben, sie haben aber nichts an Relevanz verloren. Dieses „handling“ von qualifizierter Kritik und Beteiligung hat die demokratisch defizitäre Befindlichkeit der vorangehenden Stadtregierung offengelegt, und auch deshalb habe ich „Bürgerbeteiligung“ zu einem von sieben „Offenen Briefen“ gemacht. Der ungekürzte Text des Briefes und die gesamte Reihe der „Offenen Briefe“ ist auf GAT unter dem Link rechts offene Briefe > gat.st öffentlich einsehbar bzw. in der Artikelempfehlung offene Briefe unten zu lesen.

Auch wenn die Teilnahme der Bürger*innen von Politik, Verwaltung und Planern oft als Mühlstein bei der zügigen Abwicklung von Projekten gesehen wird, können die Bürger*innen einer Stadt wesentliche Impulse vermitteln, die der Fachwelt auf Grund der Komplexität der Aufgabe oft verborgen bleiben. Transparenz sollte mit einer Informationspflicht gleichgesetzt werden, denn eine kontinuierliche Berichterstattung kommt auch den Entscheidungsträger*innen entgegen und die technischen und sozialen Zusammenhänge einer komplexen urbanen Struktur sind von Fachexpert*innen allein meist nicht vermittelbar, selbst wenn der Wille dazu vorhanden ist. Die Einsicht, dass die Stadt und im Speziellen die „Suburbia“ nicht mehr „geplant“ werden können, wird ein Höchstmaß an sozialer Kommunikation erfordern. Aufgrund der tiefen emotionalen Einschnitte kommt der Kommunikation die gleich große Bedeutung wie der technischen Umsetzung an sich zu. Nur eine nach demokratischen Prinzipien gesteuerte Entwicklung kann auf der Grundlage fachlicher Expertisen alternative Prozesse einleiten, indem die Nutzer*innen der Stadt zu mitbestimmenden Akteur*innen werden, Fachexpert*innen die komplexen Zusammenhänge erläutern und Politik und Medien als Manager*innen des Diskurses ein neues urbanes Bewusstsein vermitteln.

In den letzten Jahrzehnten hat sich in Folge von Forderungen nach Bürgerbeteiligung auch in der Stadt Graz die Rolle der politischen Mandatare im Verhältnis zu den Stadtbewohner*innen verändert, trotzdem haben politische Mandatare noch oft mit feudalen Attitüden gehandelt. In der Kommunikation zwischen Politik, Öffentlichkeit und Expert*innen spielen die Transition der europäischen Stadt, der öffentliche Raum als Ort der Demokratie, Stadtentwicklung als Gemeinschaftsaufgabe, Gemeinwohl als Grundlage von Planungsentscheidungen und die integrale Betrachtung von Baustruktur und Infrastruktur als Teil von Klimaschutz eine zentrale Rolle. Im Dreieck ÖFFENTLICHKEIT – POLITIKER – FACHEXPERTEN wird Kommunikation bei Fragen der Stadtentwicklung von der Öffentlichkeit zunehmend eingefordert. Die neuen Aufgaben verändern das Selbstbild der kommunalen, politischen Vertreter weg von einem Stadtmanager, der mit „originellen“ Projektideen seine Bürger*innen überrascht, mehr und mehr zu einem Kommunikator der urbanen Akteur*innen. Die Vertretung der Öffentlichkeit im Kontext zunehmender Komplexität der Prozesse und die kommunikative Vermittlung zu den Fachexpert*innen ist zu einer Aufgabe gewachsen, die die „Entdeckung“ städtebaulicher „Ideen“ verdrängt. Diese Vermittlung von innovativer Expertise und Information der Öffentlichkeit erfordert hohes demokratisches Bewusstsein, die Hoheitsverwaltung folgt dem aber nur in formalisierten Foren. Große urbanistische Projekte wie Entwicklungsgebiete, Altstadtgaragen, Räumliches Leitbild u.v.a. wurden bisher oft ohne ernsthafte Einbindung der Öffentlichkeit präsentiert und vertreten.

Die Kommunikation von Veränderung ist eine politisch heikle Aufgabe, aber die Transformation der Stadt und der Diskurs zur Klima- und Energiewende kann ohne bestmögliche politische Kommunikation nicht gelingen. Der Bedeutung der Aufgabe entsprechend ist die politisch – kommunikative Arbeit besonders gefordert. Politischen Transparenz, das Management des Ausgleichs unterschiedlicher Befindlichkeiten bei den heftig umkämpften Themen Verkehr und Grünraum, die Einbindung demokratischer und auch subversiver Interessensgruppen und die Sicherstellung von Kontinuität sind dabei relevant. Den politischen Mandatar*innen muss über die Zeit der begrenzten Machterteilung hinaus bewusst sein, dass urbanistische Entscheidungen den Konsenz zum „Gemeinsamen“ bedingen und dass das Leben in einer Großstadt spezifische Eigenheiten aufweist, die weniger zu bewerten als vielmehr qualitätsvoll zu kommunizieren sind.

Die meisten Menschen nehmen das Erscheinungsbild einer Stadt als statisches Konstrukt wahr, Veränderungen manifestieren sich für sie meist in Einzelbauwerken, die strukturellen Defizite bleiben unbewusst und langfristig notwendige Strategien werden nur selten gefordert. Luftverschmutzung und Verkehrsstaus werden im Verhältnis zum enormen Schaden, den sie verursachen, oft wie eine Naturgewalt mit Fatalismus ertragen und nicht als zivilisatorisches Ergebnis verstanden, das man ändern kann. Investor*innen bereiten ihre Projekte mit höchster Vertraulichkeit vor und Planungen werden erst öffentlich, wenn die Möglichkeit der kritischen Einflussnahme nicht mehr möglich ist. Diese Hilflosigkeit und mangelnde Transparenz verärgern die Bürger*innen und deshalb bleibt Stadtentwicklung für breite Schichten der Gesellschaft undurchschaubar. Urbane Projektpräsentationen brechen über die Medien eher als Heilsbotschaften denn als ernsthafte Information herein und die Politik verspricht oft mit plakativen und technokratischen Methoden schnelle und einfache Besserung, lässt die Ursachen der Symptome komplexer städtebaulicher Zusammenhänge aber unerwähnt und behindert dadurch tiefer gehende Analysen. So sollte in Graz der Verkehr von den Straßen mit Seilbahnen in die Luft und mit U-Bahnen unter die Erde  „verschoben“ werden, der „Parkplatzmangel“ in der Innenstadt sollte durch mehr Garagen „behoben“ werden oder zu viel Feinstaub und CO2, in der Stadtluft sollen mit dem Umstieg auf elektrische Antriebe verhindert werden. Diese plakativ gesetzten Einzelmaßnahmen, die weder mit einem zeitgemäßen Kommunikationsmanagement noch mit einem fundierten Fachwissen unterlegt sind, werden  politisch vermarktet, aber die mühevollen, weil langfristigen urbanistischen Paradigmenwechsel der urbanen Mobilität und der Transition der Gesamtstadt im Zuge der Dekarbonisierung werden nicht einmal angesprochen. Diese Informationsstrategie mit der Präsentation von abgeschlossenen Planungen ist nicht mehr haltbar und sollte auf den Kopf gestellt werden, indem bei urbanen Grundsatzfragen mit dem Diskurs und nicht mehr mit Projekten begonnen wird.

Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin und sehr geehrte Frau Bürgermeisterin-Stellvertreterin, fördern sie den Diskurs bei allen großen, auch privaten Bauprojekten! Fördern sie Befragungen der Bevölkerung und Aufrufe zur Mitgestaltung! Mitbestimmung bei Entscheidungen soll nicht ein besonderes Ereignis bleiben, sondern zur selbstverständlichen Regel werden, damit die Stadt die kollektive Erfahrung und das Wissen Aller für die Urbanisierung nutzen kann. Wir können den Diskurs mit den folgenden, für die Stadt Graz aktuellen Fragen sofort beginnen:
Garagenbauten in der Altstadt ziehen motorisierten Individualverkehr an und beanspruchen den knappen öffentlichen Raum für sich, der für ein soziales Stadtleben dringend benötigt wird. Wie werden sie bei künftigen Garagenprojekten in der Altstadt entscheiden?
Die Pendlerströme vom motorisierten Individualverkehr auf Bahnsysteme umzulenken, wird für die Dekarbonisierung des Verkehrs zu einem entscheidenden Faktor. Werden sie den Ausbau der Schnellbahnlinien, die den Zentralraum der Steiermark direkt mit dem Stadtzentrum verbinden, vorantreiben, wie es nach der Absage an die U-Bahn-Pläne des Altbürgermeisters Nagl gefordert wurde?
Wann startet der Diskurs zur klimagerechten urbanen Entwicklung der Stadt, zu überörtlichen und örtlichen Planungsinstrumenten, zum räumlichen Leitbild?

Mit freundlichen Grüßen,
Wolfgang Steinegger

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Ergeht an:

Bürgermeisterin Elke Kahr
Bürgermeisterin-Stellvertreterin Judith Schwentner               

Eber Manfred, Stadtrat
Krotzer Robert, Stadtrat
Hohensinner Kurt, Stadtrat
Riegler Günter, Stadtrat
Schönbacher Claudia, Stadträtin

Braunersreuther Christine, Klubobfrau
Dreisiebner Karl, Klubobmann
Ehmann Michael, Klubobmann
Gmeinbauer Daniela, Klubobfrau
Pascuttini Alexis  Klubobmann

Würz-Stalder Alexandra, Gemeinderätin
Kozina Christian, Gemeinderat
Topf  Georg, Gemeinderat
Leban-Ibrakovic Cornelia, Gemeinderätin
Reininghaus Sabine, Gemeinderätin

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