05/10/2021

Aber Hallo! 85

Von anderen lernen oder: der Blick über den Tellerrand

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Jeden ersten Dienstag im Monat veröffentlicht GAT in der Kolumne Aber Hallo! Anmerkungen von Karin Tschavgova zu aktuellen Themen von Architektur und gebauter Umwelt.

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05/10/2021
©: Karin Tschavgova

„Sage mir nur nie mehr jemand etwas Abfälliges über die Seestadt“ tönte der Chef eines Wiener Planungsbüros, als wir anlässlich einer Fachexkursion mit seiner 24-köpfigen Bürocrew kürzlich durch Reininghaus radelten. Entsetzen war ihm ins Gesicht geschrieben. Was er meinte? Er vergleich den neuen Stadtteil in Wien-Aspern mit dem, was er hier im neuen Grazer Quartier Reininghaus schon sehen konnte. Besonders die bereits fertiggestellten Bauten der Quartiere rund um den künftigen Park schienen ihm meilenweit entfernt von der Qualität jedes einzelnen der Bauträgermodelle in der Seestadt. „Gibt es diese für Graz typischen Nebeltage und -wochen nicht mehr?“ Unsere Besichtigung fand an einem wunderbar sonnigen, schönen Herbsttag statt, aber mein Kunde fragte sich und mich, welchen Eindruck das, was er zu sehen bekam, an einem nebeligen Wintertag hinterlassen werde. Die eintönigen Fassaden der beiden Hochhäuser in dunkelbraun, die anderen mittelmäßigen Wohnquartiere mit Brauntönen in allen Schattierungen quittierte er genauso mit Kopfschütteln wie die lieblose Garten- und Freiraumgestaltung der Holzbauten im Quartier 7, die (neue) Reihe von Parkplätzen vor den Wohnräumen des Pflegeheims und mehr.

Tja, was sollte ich dazu noch sagen? Konzeptionen des Wünschenswerten (Buchtitel Asset One) schauen anders aus, wenn sie Wünsche von Bewohner*innen erfüllen sollen. Ich hatte erzählt, mit welch hohen Ansprüchen der erste Eigentümer des 45 ha großen Brauereiareals begonnen hatte, Reininghaus zu entwickeln – naturgemäß, um es lukrativer vermarkten zu können. Ich hatte erzählt, dass unser Bürgermeister die Frage, ob die Stadt das gesamte zum Verkauf stehende Areal kaufen sollte, an die Grazer und Grazerinnen weitergab und sie entschieden hatten, dass dies nicht so sein solle (Wahlbeteiligung ca. 30 %, dagegen ca. 67%). Ich hatte von meinem Eindruck erzählt, dass die Wähler*innen 2012 nicht ausreichend aufgeklärt worden waren, um dazu eine Entscheidung fällen zu können, die gut für Graz ist. In der daraus folgenden Diskussion kam der Vorwurf, dass ein Populist sei, wer so eine komplexe, weitreichende Entscheidung an Nicht-Fachleute delegiert.
Dem musste ich widersprechen, denn Mitspracherecht hatten die Grazer*innen bei all den anderen Projekten, die der Bürgermeister in schöner Regelmäßigkeit aus dem Hut zauberte, nicht. Populistisch wirkten die Olympiabewerbung, die Murgondel, Seilbahn Plabutsch, die Garage am Eisernen Tor oder jüngst die Mini U-Bahn schon, aber – würde der Psychologe wohl einwenden – stand dahinter nicht das Motiv, nicht nur als der längst dienende Bürgermeister in die Stadtgeschichte einzugehen, sondern „unsterblich“ zu werden durch Mega-Projekte für ein wachsendes Graz?
Was Reininghaus betrifft, hätte die Entscheidung, das Areal anzukaufen und als Stadt selbst zu entwickeln, gewiss Vorteile gehabt. Bedingungen für den Weiterverkauf der einzelnen Quartiere hätten entwickelt, auch Qualitätskriterien über den Rahmenplan hinaus festgelegt werden können. Der Ankauf allein hätte sicher nicht zu einem besseren Ergebnis geführt als jenes, das sich jetzt schon in den bereits hochgezogenen Quartieren abzeichnet. Business as usual. Schauen Sie es sich mal an.
So oder so – in jedem Fall wäre man gut beraten gewesen, sich von ähnlichen Vorläufern städtischer Entwicklung in ganz Europa etwas abzuschauen, analysierend zu vergleichen und international erfahrene Stadtplaner*innen einzubeziehen. Das nicht gemacht zu haben, ist dem Bürgermeister nun wohl selbst zum Verhängnis geworden. Wer zuerst ein Mega-Projekt als das Beste, Großartigste lanciert, ohne fachlich umfassend geprüft zu haben, ob es ins Konzept einer nachhaltigen, klimaschonenden Stadtentwicklung passt, ob es neben anderen Varianten Bestand haben könnte und ob es überhaupt, auch finanziell, umsetzbar wäre, der rechnet offensichtlich nicht mit Widerstand oder nimmt ihn nicht ernst. Die Zahl von engagierten Bürgern, die sich heute nicht mehr das Blaue vom Himmel versprechen lassen und selbstständig denken, die sich einmischen, steigt kontinuierlich. Viele Grazer und Grazerinnen wollen Veränderungen, die sie – jeder und jede Einzelne – als Verbesserungen der Lebensqualität in Graz spüren können. Sei’s beim Wohnen, im Verkehr, an der Luftqualität (Achtung: Feinstaub!) oder beim Genießen des Sommers in einer Stadt, die sich schon jetzt aufheizt bis an die Schmerzgrenze.

Ein Appell: Werte Mitglieder der künftigen Grazer Stadtregierung (und auch der Opposition)! Arbeitet für Graz sachbezogen oder sachpolitisch, konsensual – nie populistisch. Dann möge die Übung gelingen.

Laukhardt

In einer Diskussionsrunde mit Stadtrat Rüsch meldete ich mich damals zu Wort und sagte: "Die Frage lautet: können wir uns vorstellen, dass die Stadt Graz fähig ist, nach dem Ankauf von Reininghaus hier eine gute Entwicklung zustande zu bringen? Ich glaube, die Antwort zu kennen."

Di. 05/10/2021 7:54 Permalink
Kein-Nagl-Fan

Also für die Farb- und Freiraumgestaltung die Stadtregierung verantwortlich zu machen, geht wohl bissl übers Ziel hinaus. Da sollten mal die Jury-Mitglieder der Wettbewerbe in die Pflicht genommen werden… und nicht nur in Reininghaus! Verglichen mit dem was sonst so in Graz und Umgebung juriert wird, ist das Reininghaus Quartier ja noch richtig angenehm für die Augen.

Di. 05/10/2021 7:21 Permalink
Karin Tschavgova-Wondra

Antwort auf von Kein-Nagl-Fan

Die Hervorhebung der Farbwahl, überwiegend eben Brauntöne von hell bis dunkel, sollte die generelle Tristesse des bis jetzt Entstandenen (mit Ausnahme des südlichen Quartiers Q7) veranschaulichen, nicht mehr. Ist also kein Vorwurf an die Stadt, schon gar nicht an die Stadtregierung. Auch die Jury legt üblicherweise nicht Farben fest, sondern beurteilt die städtebauliche und baukünstlerische Qualität von Wettbewerbsbeiträgen.

Mi. 06/10/2021 9:18 Permalink
Fabian Wallmüller

Die Kritik an der mangelnden Steuerung der Stadtentwicklung in Reininghaus durch die Stadt Graz ist berechtigt, sie trifft allerdings im Fall der Bebauung rund um den zentralen Park (Entwurf und Planung: Pentaplan) die Falschen. Denn im Unterschied zu einigen anderen Projekten in Reininghaus, aber auch in der Seestadt ist diese Bebauung weder städtebaulich diffus noch geschmäcklerisch anbiedernd, sonden das eindrückliche Beispiel einer Architektur, die sich durch entschiedene Abstraktion zurücknimmt, um die klare städtebauliche Setzung, den öffentlichen Raum und damit den zentralen Park wirken zu lassen.
Wenn der Wiener Kollege dazu nur den Kopf schütteln kann, hat das eventuell auch mit dem in Wien allenthalben anzutreffenden Mittelmaß an architektonischer Qualität zu tun, dessen oberste Maxime die Gefälligkeit zu sein scheint. Dass Architektur aber auch unsere Sehgewohnheiten herausfordern kann und soll, scheint hier noch nicht wirklich angekommen zu sein. Umso größere Vorsicht wäre daher angebracht, derartig undifferenzierte Ansichten kritiklos zu übernehmen, zumal sie nicht zuletzt auch den Gehalt des ansonsten zutreffenden Kommentars schmälern.

Mi. 06/10/2021 9:59 Permalink
Karin Tschavgova-Wondra

Antwort auf von Fabian Wallmüller

Das "in Wien allenthalben anzutreffenden Mittelmaß an architektonischer Qualität" kann man, meiner Meinung nach, auch der Mehrzahl der bereits fertiggestellten oder fast fertiggestellten Bauten, die sich südlich und westlich vom Park weg entwickeln, zuschreiben. Auch dort ist einiges in den eben erwähnten Braunschattierungen zu finden (und war mit gemeint) und trägt damit nicht gerade zu einem vielfältigen und lebendigen Eindruck oder Ausdruck des neuen Quartiers bei. Von Pentaplan erwarte ich mir mehr, auch ein Mehr an Anmutung, freundlicher Ausstrahlung, einladender Geste und Gliederung, auch wenn nur das Letztere eine eindeutig architektonisch festzumachende Kategorie ist. Das Gegenteil von "Eintönigkeit" ist für mich noch nicht automatisch "geschmäcklerisch anbiedernd", sondern im besten Fall vielstimmig in oder trotz "klarer städtebaulicher Setzung", wie Du meinst. Solche Beispiele finde ich im Copenhagener Nordhavn oder auch in neuen städtebaulichen Erweiterungen und Konversionen in Amsterdam. Aber vielleicht diskutieren wir das einmal vor Ort, gerne meinerseits, aber an einem trüben, regnerischen oder nebeligen Tag wie heute.

Do. 07/10/2021 9:14 Permalink
Fabian Wallmüller

Antwort auf von Karin Tschavgova-Wondra

Liebe Karin, sehr gerne. Ich finde, dass das Projekt von Pentaplan tatsächlich Anlass zu einer spannenden und auch gerne kontroversiellen Debatte geben kann. Ich melde mich, wenn ich in Graz bin!

Do. 07/10/2021 12:54 Permalink
Netzwerktreffen
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