09/02/2024

Bis 2035 sollen auf dem Areal des einstigen Nordwestbahnhofs 6.500 Wohnungen entstehen. Die installative Ausstellung „Excavations“ von tracing spaces vulgo Michael Hieslmair und Michael Zinganel macht auf Vergangenes aufmerksam. Der Bahnhof war Schauplatz der Ausstellung „Der Ewige Jude!“ im Jahr 1938.

09/02/2024

Excavations Ausstellungstafeln am Nordwestbahnareal

©: Isabella Marboe

Excavations Ausstellungstafel: historisches Nordwestbahngebäude

©: Isabella Marboe

Ausstellungsansicht Excavations: Lokomotive um 1950 am Nordwestbahnhof

©: Isabella Marboe

Gebäude der Firma Schenker

©: Isabella Marboe

Zu sehen ist fast nichts: eine gestrichelte Linie auf dem Asphalt, dahinter zwei doppelte. Wir befinden uns auf dem Parkgelände des einstigen Nordwestbahnhofs. Die gestrichelte Linie bezeichnet das Ende des Vordachs, die doppelte die ehemaligen Außenmauern der großen Bahnhofshalle des ursprünglichen Gebäudes, das auch noch ein Personenbahnhof war. Begonnen hat der Nordwestbahnhof dort, wo nun in der Taborstraße drei gesichtslose soziale Wohnblöcke stehen. Zwölf Geschosse, Lochfassade, dazwischen Abstandgrün. Hinter dem Parkplatz in der Mitte muss das prächtige Eingangsportal gewesen sein.

Ein Jahr vor der großen Weltausstellung, am 1. Juni 1872 war der Nordwestbahnhof als letzter der großen Wiener Kopfbahnhöfe endlich fertig. Er wurde vom Stuttgarter Architekturprofessor Wilhelm Bäumer im Stil eines italienischen Renaissance-Palazzo geplant, eine seitlich vorangestellte halbrunde Säulenhalle ermöglichte witterungsgeschütztes Ein-, Aussteigen und Entladen von Kutschen. Im selben Jahr gründete der Schweizer Gottfried Schenker mit seinen jüdischen Partnern Moritz Karpeles und Moritz Hirsch das Speditionsunternehmen Schenker & Co., das es in puncto internationaler Lieferlogistik zur Meisterschaft brachte.

Die Nordwestbahn verband Wien mit den nordböhmischen Industrieregionen, mit Berlin und den Nordseehäfen. Hier kam Kaiser Wilhelm II. in Wien an, von hier aus wurden viele Güter exportiert. Denn hinter dem prachtvollen Repräsentationsbau für den Personenverkehr befand sich zwischen Augarten und Donau das Areal für den Güterverkehr – von jeher wesentlich bedeutsamer und umsatzstärker. Am 1. Februar 1924 fuhr der letzte Personenzug vom Nordwestbahnhof ab, im selben Jahr wurde dort die Deportationsszene für den Propagandafilm „Stadt ohne Juden“ nach der Romanvorlage von Hugo Bettauer gedreht. Dieser Film nahm schon vieles vorweg, was später tatsächlich geschah.

Gedächtnis eines Ortes

„Excavations“ heißt das Projekt von tracing spaces, das sich um Spurensicherung dieser bis dato unterbelichteten Vergangenheit des Ortes bemüht. Sie sollte im kollektiven Gedächtnis der Stadt einen Platz finden. Michael Zinganel und Michael Hieslmair, die Masterminds hinter tracing spaces sind Experten für Transitzonen. Sie erforschen Orte des Durchzugs. Bahnhöfe, Verladeplätze, Raststationen, Umschlagplätze von Menschen, Waren, Geschichte und Geschichten. „Excavations“ macht mit simplen, weißen Linien am Asphalt den Umriss des alten Nordwestbahnhofs sichtbar und zeichnet mit temporären Eingrenzungen durch weiße Holzplanken den Verlauf der einstigen Ausstellungskojen und Rundpanoramen nach. Die Ausstellung „Der ewige Jude!“ war aus München übernommen worden, das letzte Drittel wurde eigens für Wien ergänzt, sie widmete sich unter anderem der Familie Rothschild. Insgesamt erreichte die Ausstellungsfläche ein gewaltiges Ausmaß, das diese Installation erahnbar macht.

Die leere Halle des stillgelegten Nordwestbahnhofs bot Platz für 20.000 Personen, sie war prädestiniert für Massenveranstaltungen aller Art. Am 25. November 1925 sprach dort noch Bundeskanzler Engelbert Dollfuß beim Bauernbundtag, am 26. März 1938 hielt Hermann Göring wenige Tage nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich eine Rede, am 9. April 1938 schwor Hitler seine Anhängerschar auf die „Volksabstimmung“ ein, die Tags darauf stattfand und eine Mehrheit von 99,01 % der Stimmen brachte. Für die effektvolle Inszenierung der Halle mit Hakenkreuzfahnen zeichnete Behrens-Schüler Alexander Popp verantwortlich. Sie konnte bis zum Beginn der Aufbauarbeiten der Propagandaausstellung „Der ewige Jude“ besichtigt werden.

Deportationen in Konzentrationslager fanden vom Nordwestbahnhof keine statt, die Ausstellung „Der ewige Jude!“ aber befeuerte den Judenhass, gab ihm seine Legitimation und bildete so den Nährboden für die ungezügelte Zerstörungswut, die sich in der Reichskristallnacht entladen und schließlich zur Deportation in Konzentrationslager und Vernichtung der Juden und Jüdinnen, sowie aller anderen führen sollte, deren Herkunft und Lebensart die NS- Ideologie auslöschen wollte. Die Ausstellung begann mit einem Zitat des Führers aus „Mein Kampf“, listete auf einer 45 Meter langen Zeitachse alle „Verbrechen“ auf, die das Judentum begangen hätte, führte die „unterwanderten Berufsgruppen“ auf, zeigte Filmszenen auf Rundpanoramen und entließ seine österreichischen Besucher mit der Perspektive auf eine „Befreiung“ durch den Führer.

Erinnerung wach

Die Spedition Schenker & Co. belieferte vom Nordwestbahnhof auch die Waffenindustrie und transportierte Kriegsgut an die Front, nach Kriegsende lag der Nordwestbahnhof in der russischen Besatzungszone, hier kam Verpflegung für Soldaten an und von hier aus fanden die ehemaligen Lokomotiven der Wehrmacht ihren Weg nach Russland. 1952 wurde die prächtige Personenabfertigungshalle abgetragen, bis zu seiner Schließung vor fünf Jahren blieb der Nordwestbahnhof einer der wichtigsten Güterbahnhöfe und Warenumschlagsplätze Wiens.

Zukunftsperspektiven

Nun ist er mit 44 Hektar Fläche das letzte große innerstädtische Entwicklungsgebiet der Stadt. Bis 2035 sollen auf dem Areal des einstigen Nordwestbahnhofs 6.500 Wohnungen für 16.000 Menschen und 4.700 Arbeitsplätze entstehen. Am 17. November 2008 nahm der Gemeinderat einstimmig das städtebauliche Leitbild an, das enf architekten aus Zürich dafür entwickelt hatten. Es sieht im Wesentlichen hohe Blockrandbebauung um einen 10 ha großen Grünraum vor, vom existierenden Baubestand blieb nichts. Nach einer Überarbeitung sollen die mittlerweile entkernte Post des ursprünglichen Nordwestbahnhofs und zwei historische Backstein-Lagerhallen erhalten bleiben. Seit 2008 hat sich der Blick auf Bestand stark verändert. Er speichert nun einmal viel graue Energie, Michael Zinganel ortet im alten Güterbahnhof mit seinen Terminals, Hallen, Geleisen und Flugdächern viel brachliegendes Potential. „Im Sinne einer produktiven Stadt ließe sich der Warenumschlagplatz für die benachbarten Bezirke, für Gewerbe und Kultur nutzen“, ist Zinganel überzeugt. „Man könnte beispielsweise auch das Bahnwärterhäuschen am nördlichen Spitz in die Neuplanung integrieren.“ Das Areal ist für „gemischte Nutzung“ gewidmet, derzeit ist vorrangig Wohnen geplant. Die Bauträgerwettbewerbe für die einzelnen Baulose und die übergeordnete Freiraumgestaltung werden demnächst ausgeschrieben. Es wäre wichtig, von den Entwürfen eine Auseinandersetzung mit der Geschichte dieses Ortes einzufordern. Sonst wächst einfach Gras darüber. Das ist oft genug der Fall.

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Zum Nordwestbahnhof ist das Buch „Blinder Fleck“ von Michael Hieslmair, Michael Zinganel und Bernhard Hachleitner im Falter Verlag erschienen.

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