03/09/2024

„Die Art und Weise wie unsere Städte heute funktionieren, hat nichts mehr mit den physischen Eigenschaften von Gebäuden zu tun.“ [1] Liam Young, 2016

03/09/2024

Stadthaus in der Wiener Nordwestbahnstraße 53

©: Gerhard Flora/ Harald Trapp (AKT)

Einsam steht es da, ein gewöhnliches Stadthaus an der Wiener Nordwestbahnstraße, am Rande einer weiten Brachlandschaft. Ein seltsamer Anblick. Vor wenigen Jahren noch war das Gebäude Teil eines umfangreichen Ensembles von Produktions- und Werkhallen. Die sind inzwischen abgetragen.

Errichtet im Jahr 1907 als Büro- und Wohngebäude nach einem Entwurf des Otto Wagner Schülers Franz Krasny, bleibt nur die Grundstruktur intakt, nachdem das Areal im Zweiten Weltkrieg bombardiert wird. Kurz nach Kriegsende verstirbt der Besitzer, das Haus wird verkauft und für andere Zwecke neu ausgebaut. Auf einen gestalterischen Anspruch abseits der Gebrauchsfähigkeit wird verzichtet.

Es folgen Jahrzehnte des dauernden Umbaus. Die zweigeschossige Wohnhalle in den oberen Stockwerken wird durch eine Zwischendecke geschlossen, die großbürgerliche Wohnung in kleinere Einheiten unterteilt. Ständig wechselnde Bewohner*innen bauen weitere Zimmer ein, verschieben Trennwände oder legen Wohnungen wieder zusammen. Im Erdgeschoss wird ein Café eingerichtet, dann ein Club, schließlich in den 2000er Jahren eine Diskothek. Eine Verbindungstreppe wird geschlossen. Der Schall der Diskothek breitet sich durch das Stahlbetonskelett bis ins oberste Stockwerk aus. Das Stiegenhaus ist durch seine direkte Anbindung wie ein Hinterzimmer der Diskothek und wird zum Angstraum vieler Bewohner*innen. Jene, die es sich leisten können, ziehen übers Wochenende in eine Zweitwohnung. Vereinbarungen mit dem Betreiber beruhigen die Situation wieder, der Zugang zur Stiege wird verschlossen. Während Künstler*innen die oberen Stockwerke als Wohn-Ateliers verwenden, wird das Bürogeschoss zu illegalen Kleinstwohnungen ausgebaut. Erst durch einen Brand werden diese entdeckt. Gegen Ende leben einige der Bewohner*innen mietfrei im Haus. Dann erneuter Besitzerwechsel mit Plänen für das gesamte Areal: Die eigentümliche Mietergemeinschaft und die Diskothek müssen ausziehen. Für eine Woche wird das Haus zum Ausstellungsraum zeitgenössischer Kunst. Ein letztes Mal ändert sich sein Gebrauch, dann steht es verlassen da.

Nach über einhundert Jahren, erinnert sein Erscheinungsbild kaum noch an den ursprünglichen Entwurf Krasnys, eher an eines der berühmten Filmsets des Stummfilmstars Buster Keaton. Teilweise verfallen und umgeben von einer Steppenlandschaft aus hohem Gras und Sträuchern, mutet es an wie der Schauplatz einer Szene aus „Scarecrow“ (1920). In deren Mittelpunkt: Eine Verfolgungsjagd, die ähnlich der Umbaugeschichte des Hauses an der Nordwestbahnstraße fast beiläufig Aufschluss gibt über eine zentrale Qualität von Architektur.

„Mad Dog!“ [2]

Kuriose Hanswurste, Verwechslungsspiele und immer wieder anarchische Prügeleien und Verfolgungsjagden waren das Markenzeichen des frühen Slapstick. Charakteristisch war der akrobatische Körpereinsatz der Darsteller, unterstrichen durch zunehmend groteske Filmarchitekturen, die den Verrenkungen der Hauptfiguren wie auf den Leib geschneidert waren. So auch in „Scarecrow“, der „Vogelscheuche“. Panisch ergreift Buster Keaton darin die Flucht vor dem jungen Bull-Terrier „Luke“. „Luke the Dog“ zählte neben "Keystone Teddy" zu den damals talentiertesten und populärsten Tierstars Hollywoods. In früheren Filmen sah man ihn schwimmen und auf Leitern klettern, in Kochuniform und bei der Pediküre; er fuhr mit der Kutsche, aß Sandwiches, entfesselte Geiseln oder rettete Menschen vor dem Ertrinken. [3]

Die Situation zu Beginn der Szene scheint ausweglos. Luke ist schneller und wendiger als Buster Keaton. Auf offenem Feld wäre die Jagd bald zu Ende. Da erscheinen in der Einöde die Reste eines Lehmziegelhauses. Der Dachstuhl abgetragen, die Fenster ausgebrochen, löchrige Wände. Entschlossen springt Keaton durch eine Öffnung in die Ruine. Luke jagt hinterher – und plötzlich beginnt sich das scheinbar festgeschriebene Verhältnis zwischen beiden zu verschieben. Keaton trifft seine Entscheidungen ab sofort im Wissen darüber welche Wirkung sein Gebrauch von Wänden, Decken und Öffnungen auf seinen Verfolger hat. Er läuft nicht länger nur davon, sondern setzt diese architektonischen Mittel bewusst ein, um Luke loszuwerden. Für einen Moment im Innenraum verschwunden, taucht Keaton durch eine andere Öffnung wieder im Freien auf. Luke folgt ihm. Ein Hin und Her beginnt, ohne dass einer der beiden einen Vorteil daraus gewinnen könnte.

Schließlich der erste Richtungswechsel – scheinbar fatal. In die Ecke gedrängt entdeckt Keaton auf Bodenhöhe ein Schlupfloch in der Außenwand. Er zwängt sich durch, springt draußen auf und presst sich mit gespreizten Beinen gegen die Wand. Luke schießt zwischen seinen Beinen durch die Öffnung ins Freie ohne ihn zu bemerken. Keaton schlüpft zurück ins Innere und steigt über eine Leiter auf die Mauerkrone der Ruine. Die Flucht scheint vorbei, der Verfolger in die Irre geführt. Doch Luke entdeckt ihn und klettert hinterher. Die Verfolgungsjagd geht weiter. Mehrere Runden drehen die beiden auf dem schmalen Mauerrand. Der ist durch größere Lücken unterbrochen, die behelfsmäßig mit Holzdielen überbrückt sind. Dann die Entscheidung: Keaton überquert eines der Bretter, zieht es auf seine Seite und legt so die Bresche im Mauerwerk frei. Für Luke ist der Weiterweg unterbrochen, die Lücke zu groß. Keaton zeigt ihm eine lange Nase, lässt sich nieder und steckt sich eine Zigarette an. Für einen Augenblick verharren beide regungslos. [4]

Was ist geschehen? Durch die Mauer, die Öffnung in ihr und Keatons Eingriff, das Wegziehen des Bretts, hat sich das Verhältnis zwischen den beiden Protagonisten abrupt verändert. Aus der Verbindung durch die Jagd ist eine Trennung geworden, welche Luke Einhalt gebietet. Keaton hat sich selbst isoliert.

Vergessen wir für einen Augenblick den Slapstick. Lassen wir außer Acht, dass es sich bei Keatons Widersacher um einen Bull-Terrier handelt. Jeder menschliche Verfolger hätte versucht, die Öffnung wieder zu schließen. Keatons Handlung und ihre beabsichtigte Konsequenz geben dennoch eine Vorstellung davon, welchen Einfluss wir durch Architektur auf unser Zusammenleben nehmen, wie wir es durch sie bewusst formen.

So wie die Verfolgung in "Scarecrow" auf offenem Feld in der Tragödie hätte enden müssen, so hätte sich auch die Nachbarschaft in dem Haus von Krasny ohne trennende Wände und Decken, ohne verbindenden Öffnungen und Stiegen ganz anders entwickelt. Viele der dort ausgetragenen Konflikte entstanden gerade an den Stellen, wo die Architektur des Hauses unzureichend war. Wo deren Erschließung unerwünschte Bewegung und Begegnung ermöglichte, wo sie widersprüchliche Interessen zwar räumlich verdichtete, ohne gleichzeitig die nötige Distanz zu erzeugen. Und eben auch da mussten zwischenmenschliche Konflikte erneut durch architektonische Eingriffe ausgehandelt werden.

Ob es sich nun um die Herstellung einer Öffnung oder die Herstellung einer Wand handelt: Wenn Menschen Architektur zwischen Menschen bauen so tun sie dies, um ihr Verhältnis zueinander zu verändern. Und die Architektur wird zur Grundlage dieses neuen Verhältnisses. So wie Keaton nicht mehr auf Luke achten muss, da dieser von der Lücke in der Mauer allein in Schach gehalten wird. Ohne diese aber begänne alles von Neuem.

Und so zeigt der Blick über ödes Grasland hinweg auf ein verlassenes Abbruchhaus: Architektur ist nicht Hintergrund. Architektur macht Gesellschaft möglich. Darin besteht ihre soziale Relevanz.


 

______Quellen

[1] Liam Young im Interview, auf arte: “Tracks” – Liam Young erklärt die Städte unserer Zukunft; 16.12.2016
[2] Mit diesem Zwischentitel wird die Verfolgungsjagd in Buster Keatons „Scarecrow“ (1920) eröffnet.
[3] Tiere waren in vielen Slapsticksequenzen den menschlichen Darstellern fast gleichgestellt. Dialoge mussten als Zwischentitel eingeblendet werden und deshalb ohnehin auf wenige Worte beschränkt bleiben; gerade ausreichend um dem Publikum holzschnittartig die Beweggründe des Geschehens anzudeuten.
[4]  Selbstverständlich ist die eigentliche Szene hier nicht zu Ende. Luke gelingt schlussendlich der Sprung über die Lücke, Keaton lässt sich resigniert von der Mauer fallen und ergreift erneut die Flucht. 

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