04/12/2023

Als österreichischer Architekt und international agierender Philosoph nimmt uns Volker Giencke auf eine Zeitreise mit, die es durchaus zu vertiefen lohnt: Die Polaritäten spannen sich vom „Einfügen des Neuen in das Alte“ bis hin zum „Abdriften des analog Greifbaren ins digital Vorstellbare“.

04/12/2023

Gut Garkau, Architekt Hugo Häring, 1925 © Christoph Mondschein

Innenraum „Haus Schminke“, Architekt Hans Scharoun, 1930, © Stiftung Haus Schminke/ Ralf Ganter

Das Grazer Architekturportal GAT Gesellschaft-Architektur-Transformation ist 20 Jahre alt geworden. Es feierte sein Jubiläum im Palais Attems, das bedeutendste Adelspalais der Steiermark, erbaut 1702-1716. Das ist etwas länger her.

In der festlichen Ansprache wurde an die Zeitschrift ‚BAU‘ erinnert, ein Architekturmagazin, gegründet 1965 von Günther Feuerstein, Hans Hollein, Gustav Peichl und Sokratis Dimitriou. Zugleich waren die Herren die Redaktion der Zeitschrift, mit dem Auftrag nur gute Architektur zu veröffentlichen. Das geschah vor 60 Jahren. 

Von einer interdisziplinär geführten Redaktion war damals keine Rede, da jeder seinen künstlerischen Auftrag ernst nahm und sich nicht in Interpretationen verlieren musste, um zu überzeugen. Fünf Jahre dauerte das kulturelle Intermezzo, glanzvolle Zeit des ‚BAU‘ und eines Architekturjournalismus, der heute nur mehr in raren Ansätzen passiert. Die Suche nach einer neuen Tradition beschränkte sich in der Architektur auf Raum, Zeit, Architektur, -Kunst und alles andere eingeschlossen.

„Alles ist Architektur“

Erstaunliche Konstruktionen, neues Material und verwegen Entworfenes erlaubten – nein – verlangten, plötzlich angewandte Architektur: lebendig, antihistorisch, antiakademisch. Es war der Anschluss an jene Bewegung, die als ‚Internationaler Stil‘ um 1920 Europa in Besitz nahm, und nach etwas mehr als 10 Jahren abrupt zu Ende ging.

Das  ‚Gut Garkau‘ 1925 (Hugo Häring), ein Bauernhof nahe Lübeck, und das ‚Haus Schminke‘ 1930 (Hans Scharoun), an der deutsch-polnischen Grenze bei Dresden, beides Projekte fast 100 Jahre alt und trotzdem ihrer und unserer Zeit voraus, sind wenig bekannte Beispiele dafür.

Und heute? 

Gefangen vom Geschwafel Wohl-Fühl-Architektur, dem spastischen Bemühen um Nachhaltigkeit bei jeder Art von Tun und Handeln, und dem Ausschluss von Denken und Erkennen in der Sicht der uns umgebenden Dinge, stürzen wir aus verordneter Einfalt zurück in eine dunkle Zeit. Nichts und niemand hält uns auf. Jeder Tag eine neue Katastrophe. Kriege, Klimakatastrophen, Epidemien, irgendwo und überall auf dieser Welt. Ebenso verlogene wie korrupte und machtbesessene Polit-Zwerge an den Schalthebeln wirtschaftlicher Macht. Unfassbar, dass diese Gespenster sich verantwortlich für uns fühlen, ohne zu fragen agieren, das Glück der Menschen nur ihrem Machterhalt opfern und damit eine Verbesserung der Welt torpedieren.

Keine Überraschung, wenn wir nicht mehr informiert werden wollen, wegschauen und uns aus Selbstschutz in Wunderwelten flüchten. Doch gerade wir dürfen nicht vergessen: Es sind unsere Herzen, die schlagen, und unsere Köpfe, die denken, und die Welt am Leben erhalten.

Die Philosophie eines Amadeo Silva-Tarouca,

von 1948-1970 Professor an der Universität Graz, begab sich mit der Ich-Du-Polarität auf eigenständige Suche nach einem neuen humanistischen Menschenbild. Die Ich-Du-Polarität ließ in schwierigen Zeiten Hoffnung aufkommen. Heute stellt sie Fragen.

Marktkonformes Verhalten deklariert sich: Reichen Algorithmen für ein umweltbewusstes, nachhaltiges Verständnis und Handeln? Garantieren analoge und digitale Technologien die friktionslose zwischenmenschliche Kommunikation bzw. garantiert der Einsatz von künstlicher Intelligenz philanthropes Verhalten?

Schrei nach Architektur! 

Schreckliche Architektur wird angepriesen und verkauft, – und gebaut. Auch ein gutes Ambiente, gute Architektur, kann per se nicht heilen, aber sie kann helfen. Sie kann positiv motivieren, das Selbstwertgefühl heben, und durch räumliche Atmosphären freundliches Verhalten initiieren. Dessen sind sich kritische Architektinnen und Architekten, Landschaftsarchitekten, -innen und Städteplaner, -innen bewusst.

Offensichtlich sitzen diese nicht in den Kommissionen und Jurys. Sie sind als Entscheidungsträger nicht erwünscht, weil zu anspruchsvoll und schlecht korrumpierbar.

Umweltbewusstsein versus Ästhetik in der Architektur

Das Einfügen des Neuen in das Alte als Idealbild einer gelungenen Sanierung, Renovierung oder als Denkmalpflege, geschieht durch seine Unverwechselbarkeit, eben durch seine Besonderheit. Dargestellt mit spielerischer Meisterschaft und nicht durch Nachahmung des Bestehenden oder Anpassung an die Umgebung. Neues Bauen in alter Substanz. Soll es gelingen, duelliert und ergänzt sich die Qualität des Neuen respektvoll mit der Qualität des Alten. Der österreichische Bauherrenpreis 2023, vom Architekturjournalismus hochgepriesen, zeigt zum Beispiel partout das Gegenteil.

Also doch: Entwerfen als konkrete Utopie!

Das analog Greifbare und digital Vorstellbare als Entwurfsgrundlage –als wichtigster Anhaltspunkt für die Beurteilung durch Dritte und entscheidend für eine zukunftsorientierte Architektur, die ihre reale Bedeutung erst erfährt durch multifunktionell gedachte Räume des Möglichen, des Wahrscheinlichen und des künftig Vorstellbaren –also alles das, was nicht oder fast nie passiert. Mann/Frau, es ist Zeit!

Die künstliche Intelligenz

Man ist sich sicher, sie generiert etwas Neues, phantastische Welten, ohne die Qualität des Ergebnisses zu hinterfragen, besser: hinterfragen zu müssen bzw. zu können. Die digitalen Bilder und Modelle verführen zuerst ihre Verfasser. Aber tatsächlich sind ‚die Verfasser‘ nur bedingt die Verfasser dieser Bilder und Modelle. Sie sind mehr Passagiere als Protagonisten! KI ist lebensbestimmend und –bereichernd, oder aber fragt nach der Aufgabe des Persönlichen durch das Geringschätzen der eigenen Kreativität.

Sehen, erkennen, denken! – dann planen, ist noch immer das gültige Rezept für gute Architektur.

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