Raimund Abraham kann seinen Blick nicht mehr auf uns richten. Einmal sah er bei einer nächtlichen Autofahrt vor zwei Jahren in Los Angeles daneben, mit tragischem Ausgang. Mein guter Freund, mit dem ich von 1952 – 1958 das Studium an der Technischen Hochschule absolvierte, ist mir in bester Erinnerung. Schon im Zeichensaal der Hochschule arbeiteten wir gemeinsam mit Friedrich St. Florian an einem Wettbewerb. Es folgte das Wettbewerbsprojekt für die Universität Riad, das ihm mit St. Florian einen überraschenden dritten Preis einbrachte (leider sind die Entwurfspläne unauffindbar). Da ich sowie Jon Lundberg zur Unterstützung von Plan und Modellerstellung mitwirkten, sind mir die kubischen Elemente der erratischen Blöcke von Universitätsbauten in der arabischen Wüste in Erinnerung. Es waren elementare Zeichen räumlicher Aussagekraft, die die Jury bei über hundert Projekten aufhorchen ließen.
Angesichts des letzten, noch als Entwurf ausgefertigten Projektes von Raimund Abraham scheint mir eine generelle Charakteristik seiner, in einem über 50-jährigen Architektenleben entstandenen Projekte und Bauten signifikant:
Ein Haus schaut dich an
Raimund Abrahams Selbstverständnis als Architekt war einerseits von seiner Osttiroler Herkunft geprägt, andererseits von seinem präzisen, das Wesentliche erkennenden Blick auf Formen und schließlich seinem bekennerhaften Pathos, das auf Universalität gerichtet war. Diesen drei Aspekten möchte ich nachspüren.
Personalisierung
Zunächst erscheint mir die Personalisierung maßgebend, die seinen Häusern ein „Gesicht“ verlieh. Was bei einfachen Lehmziegelbauten auf einem ägyptischen Wandteppich und auf Häusern der Volkskultur in verschiedenen Weltregionen erkennbar ist, wird bei Abraham zu einer komplexen Komposition, die einen eindeutigen Blick auf ein Bauwerk offenbart.
Am ausgeprägtesten erscheint das bei seinem Hochhausbau des Kulturforums in New York, indem er von einer dominanten Straßenansicht als „Maske“ spricht. Die Maske ist in Brauchtum und Theater immer ein „zweites Gesicht“, das eine innere Bestimmung nach außen kehrt. Beim Projekt in Hombroich – am Areal der ursprünglichen Raketenstation – senkt sich ein kreisrunder Himmelskörper auf eine irdische Bodenstation, die in ihrer Symmetrie dafür geeignet erscheint, in das kartesische Achsensystem unserer Welt eingebunden zu werden. Wieder bringt die Achsialität, durch duplizierende Elemente der geraden und gekrümmten Wände und aufragende Säulen betont, eine Visage hervor. Die durch die dreieckige Deckenaussparung lichtdurchflutete Mitte steht synonym für das Augenpaar, das einen aus der Tiefe anschaut. Diese Personalisierung architektonischer Formen durchzieht das Gesamtwerk von Raimund Abraham, das auch in seinen zahlreichen Zeichnungen als zweidimensionale Erscheinungsform sowohl den Produktions- wie Rezeptionsprozess mit einer „Signatur“ – der persönlichen Handschrift – hervorkehrt.
Nicht verleugnen konnte Raimund Abraham seine Osttiroler Herkunft. Er war in den Bergen aufgewachsen und brachte 1952 zum Studium nach Graz neben Zeichensachen seine Ski mit, um gleichzeitig mit dem Inskribieren dem Akademischen Skiclub beizutreten. Sein erstes Projekt, ein Einfamilienhaus in „Entwerfen I“, war in seiner Prägnanz einem Längsstadel nachempfunden, dem er in gekreuzter Weise einen zweiten, freilich ohne Steildach, darüber setzte. Nicht verwunderlich, dass er seine erste Publikation „Elementare Architektur“ nannte, die als Fotoessay eine Schau alpiner Bauernhäuser und Stadel in ihrer einfachen, konstruktiv betonten Form zeigte.
Kraft der elementaren Form
Der Architekt glaubte an die Kraft der elementaren Form, der er sein Werk in nahezu 50 Jahren Berufstätigkeit widmete. Die geometrischen Grundelemente von Quadrat, Kreis und Dreieck kehren in den Entwürfen immer wieder, wobei er diesen, wie in der Zeichnung beim „Haus mit bewegten Vorhängen“ eine Zeitdimension verleiht. Dasselbe gilt für den Entwurf von ausgeführten Kindermöbeln, die als Faltfiguren aus einem Kartonwürfel entwickelt wurden. Das Projekt in Hombroich vermittelt diese räumliche Vorstellung schließlich geradezu als künstlerisches Testament.
Universalität
Als dritten Wesenszug des Werkes von Raimund Abraham glaube ich die Universalität zu erkennen, zu der er sich in bekennendem Pathos zugehörig zeigte. Als er gemeinsam mit Friedrich St. Florian Mitte der Sechzigerjahre in USA Fuß zu fassen versuchte, führte die emotionale Nähe zu Friedrich Kiesler in New York zu einem Freundschaftsverhältnis, das sich auch in der Bereitstellung seines Ateliers für erste Arbeiten niederschlug. Etwas von Kieslers Charisma, der der Architektur unbeschadet des Bauens eine Stellung als werthaltiges künstlerisches Objekt zusprach, scheint mir Raimund Abrahams Lebenstraum zu durchziehen.
In seiner archaischen Haltung nähert sich Raimund Abraham einem leidenschaftlichen Erforscher steinzeitlicher Monumente, Martin Brennan, an. In seiner „Boyne Valley Vision“ (1) stellt er den universellen Charakter der megalithischen Monumente im irländischen Boyne Valley – Hügel, Steine, Steingravuren – als Spiegelbild des Kosmos dar. Dabei schreibt er den geometrischen Grundfiguren des Kreises, des Quadrates und des aus seiner Viertelteilung hervorgegangenen Dreiecks die Rolle eines inneren Musters zu, das in seiner Überlagerung die sakralen Zeitzeugen einer Zeit vor 3200 Jahren bestimmt. Sie sind für ihn „…an expression of oneness with nature that we seem to have lost in our age“. In den archaischen Bildern, von Menschenhand geschaffen, kommt ein Vereinigungsprinzip zur Geltung, das wie das Yin-Yang-Symbol als Botschaft auch an unsere Zeit angesehen werden kann.
Für mich ist Raimund Abraham ein Botschafter, der in seiner Architektur nie den Moden einer Zeit unterworfen war, sondern seinen eigenen, geradezu eigenwilligen Weg eines Künstlers ging, der aus der Vergangenheit seiner Herkunft über die Gegenwart eines leidenschaftlichen Engagements für Architektur in die Zukunft einer kosmischen Bestimmung des Menschen deutete.