Naglaas Augen strahlen, wenn sie über den ihr liebgewonnen Stadtraum spricht. Sie wohnt mit ihrer Familie in einer ruhigen Seitengasse am Grazer Griesplatz. „Die Siedlung ist ein guter Ort für Kinder“, schwärmt sie. Schule, Kindergarten, Park und Geschäfte sind in der Nähe. „Der Griesplatz ist wie ein Zentrum – alles ist zu Fuß zu erreichen.“ In den Supermärkten bekomme sie sogar ägyptische Lebensmittel, meint die 44-jährige, die vor 18 Jahren aus Ägypten nach Graz kam. Besonders wohl fühle sie sich weil die Leute hier, im Gegensatz zu anderen Orten, kein Problem damit haben, wenn sie mit dem Kopftuch auf die Straße gehe. Hier sei das nicht ungewöhnlich. Mit der Familie viel draußen zu sein und spazieren zu gehen sei ihr wichtig. Unter keinen Umständen wolle sie vom Griesplatz weg.
Im Sommer 2016 erhob ein vierköpfiges Forschungsteam in Kooperation mit <rotor> die Sichtweisen von 100 Menschen auf diesen diskursiv aufgeladenen Platz. Die Vielfalt der NutzerInnen sollte sich in der Forschung widerspiegeln und besonders auch jene Perspektiven berücksichtigt werden, die im öffentlichen Diskurs wenig Niederschlag finden. Die Zeichnung – ein Medium, das Kommunikation auch über Sprachgrenzen hinweg ermöglicht – diente sowohl als Gesprächsanstoß, als auch als narratives Mittel. Hierzu wurden Interviews in acht Sprachen geführt. Neben einer vierteiligen Plakatserie erschienen die Ergebnisse in Form eines 142-seitigen Buches, das Dezember 2016 im HDA Graz präsentiert wurde.
Hintergrund der Forschung ist die geplante Umstrukturierung des Viertels und die Verlegung einer Straßenbahnlinie. Im Sinne einer sensiblen Stadtplanung scheint es evident, die immateriellen Strukturen und Netzwerke zu erheben, die hier bestehen.
Durch die Methode des Mental Mapping, bei der die Befragten einen Stadtraum zeichnerisch darstellen, wird erfasst, was auf vermeintlich objektiven kartografischen Darstellungen zumeist fehlt: intersubjektive Wahrnehmungen, Erinnerungen und alltägliche Praxen.
Die erstaunliche Vielfalt an Formen, die die Menschen für die Darstellung des Griesplatzes wählten, kommt als künstlerische Interpretation des erfassten Materials in einem der Plakate zum Ausdruck (Abb. 3). Von einem Kreis, einer Straße, einer Ecke, einer Kreuzung, einer Straßenlandschaft bis hin zu Kompositionen, in deren Mittelpunkt Verkehrsinseln oder ein Kreisverkehr stehen, wird Griesplatz verschiedenartig interpretiert.
Fest steht, dass Durchzug und Bewegung das Gefüge dominieren. Der Platz wird als Highway, Verkehrshölle oder Umsteigebahnhof bezeichnet, die Bushaltestelle ist das am häufigsten eingezeichnete Element. Die Arterien des Verkehrs verlaufen über den Platz, sie binden ihn an und zerschneiden ihn gleichsam. Das öffentliche Leben bleibt auf ausgesparte Restflächen bzw. halb-öffentliche (Konsum)-Räume beschränkt. Obwohl mehrere Befragte den Griesplatz als Hauptplatz des Viertels beschreiben, wird er kaum als Platz erfahren.
Dennoch ist der Griesplatz ein wichtiger Bezugs- und Identifikationspunkt im Leben vieler. Menschen mit verschiedensten Hintergründen bezeichnen ihn als Heimat oder Zuhause: als Teil dessen, was sie als den Raum des Eigenen empfinden. Gleichsam hat er für viele aber auch etwas Fremdes, Unheimliches oder auch Exotisches.
Für Gloria, eine junge, im Viertel aufgewachsene Frau, hat sich der Griesplatz zum Schlechteren entwickelt. Sie zeichnet die ehemaligen Geschäfte und Lokale am Platz ein – so wie sie in ihrer Kindheit aussahen (Abb. 4). Der heutige Zustand des Platzes mache sie traurig. Mit Ausnahme des thailändischen Imbiss gebe es keinen Ort mehr, an dem sie sich wohl fühle. „Alles Türke, Türke, Türke“, sagt sie und beschwert sich über die „vielen Ausländer“, die sie – wie so viele – unter dem Begriff Türken subsumiert.
Ganz anders erlebt Dani den Platz (Abb. 5). Erst im fortgeschrittenen Alter zog sie auf diese Seite der Mur in die Geriatrischen Zentren. Selbstbewusst schildert sie, dass sie nach anfänglichen Zweifeln nun auch die türkischen Supermärkte und Friseure frequentiere. Ihre Karte ist im Hier und Jetzt verortet und zeugt von einer genauen Kenntnis der Geschäfte.
Für beide Frauen ist der Griesplatz ein Ort des „Fremden“, doch ist dieses sehr unterschiedlich besetzt. Während Gloria die Veränderungen als schrittweise Verkleinerung „ihres“ Platzes empfindet, weitet Dani ihren Handlungsraum kontinuierlich aus: das „Fremde“ wird vertraut und verliert an Bedrohlichkeit.
Für andere ist der Griesplatz zur Nachbarschaft geworden. Volkan etwa bezeichnet ihn als den Mittelpunkt seines Lebens. Die Karte gestaltet er minimalistisch (Abb. 6). Sehr selektiv zeichnet er nur jene Orte ein, die in seinem Leben eine alltägliche Rolle spielen – alles andere spart er aus. Vom Griesviertel spricht er als „unser Viertel“ und meint damit die türkisch-/ kurdischsprachige Community. Der Platz wird als Zentrum eines Netzwerks wahrgenommen, und vor allem wegen dieser sozialen Verdichtung geschätzt.
Martin stellt den Griesplatz ganz anders dar. Sein Grätzel zeichnet er als Wimmelbild voller Beschreibungen und Geschichten (Abb. 7). Gerade diese Vielfältigkeit ist es auch, wegen der Martin den Griesplatz allen anderen Teilen der Stadt vorziehe. Seinen multikulturellen Charakter und die Unkompliziertheit setzt er der „spießigen” und kleinstädtischen Atmosphäre anderer Viertel gegenüber. Gleichzeitig schätzt er die lokale Geschäftsstruktur und die persönlichen Kontakte, die er hier hat.
Sowohl Martin als auch Volkan zeichnen eine Karte „ihrer“ Nachbarschaft als Handlungsraum des täglichen Lebens. Doch die Art und Weise, wie sie Nachbarschaft definieren, was sie hier wahrnehmen und schätzen ist sehr verschieden.
Obwohl dies nur wenige Beispiele aus den 100 im Projekt erhobenen Karten sind, so können sie dennoch aufzeigen, was in stadtplanerischen Debatten selten bedacht wird: Stadträume sind immer auch Bezugs- und Identifikationsräume. Und sie sind hochgradig ambivalent, uneindeutig und konfliktiv.
Ein städtebaulicher Eingriff darf nicht versuchen „Ordnung“ in diese Widersprüchlichkeiten zu bringen. Vielmehr muss forciert werden, gemeinsame öffentliche Räume als Orte der Begegnung zu schaffen. Es gilt behutsam umzugehen mit dem, was da ist. Wenn der Griesplatz als ein „Platz für alle“ im Sinne seiner NutzerInnen definiert werden soll, dürfen die Strukturen und Netzwerke, die die Gegend lebenswert machen, durch einen Umbau nicht aufs Spiel gesetzt werden.
Stadtentwicklung darf hier nicht ohne die Menschen vor Ort gedacht und gemacht werden – und muss die vielfältigen Lebensrealitäten berücksichtigen, die sich hier überlagern. Dies bedingt einen langfristigen und kontinuierlichen Prozess, der sich nicht nur auf Verkehrs- und Planungsfragen beschränkt, sondern weiter, breiter und ergebnisoffen gedacht werden muss. Dies involviert auch sozialpolitische Fragen, wenn es etwa darum geht, steigenden Mieten und Verdrängung entgegenzuwirken.
Griesplatzzeichnen gibt die Sichtweisen auf diesen vielschichtigen Stadtraum kaleidoskopartig wieder – und ermöglicht es, Lebensrealitäten, Ängste und Wünsche – auch fern der eigenen – verstehen zu lernen. Auf die grundlegenden Fragen, was dieser Platz ist und was ihn ausmacht, gibt es keine singuläre Antwort, sondern eine Vielzahl an Stimmen, die gehört werden wollen.
Buchempfehlung
GRIESPLATZZEICHNEN
Hg: Adina F. Camhy, Robin Klengel, Coline Robin und Markus Waitschacher in Kooperation mit < rotor >
142 Seiten, € 10,00, 2016
ISBN: 978-3-901174-80-3
Das Buch beinhaltet alle erhobenen Zeichnungen, ergänzende Essays, die Sujets der Plakatserie und eine Einleitung in Deutsch, Arabisch, Bosnisch-Serbisch-Kroatisch, Englisch, Farsi, Französisch, Spanisch und Türkisch.
Es ist im Haus der Architektur Graz, Mariahilferstraße 2, 8020 Graz und im < rotor > Zentrum für zeitgenössiche Kunst, Volksgartenstraße 6a, 8020 Graz erhältlich.