Von der breiteren Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt fand in Graz von 2. bis 4. Oktober 2019 die größte Konferenz Europas für nachhaltige Mobilität, CIVITAS, mit rund 650 TeilnehmerInnen aus 45 Ländern statt. Damit kehrte die EU-Initiative mit dem griffigen Motto Back to the Future an ihren Ursprungsort zurück, denn auch die erste Tagung war 2003 in Graz abgehalten worden.
Graz war von Beginn an im Jahr 2002 Mitglied der EU-Initiative CIVITAS, einem Netzwerk von mittlerweile 85 europäischen Städten, die sich für nachhaltige und umweltverträgliche Mobilität einsetzen. Die Wortschöpfung steht für CIty–VITAlity–Sustainability, also nachhaltigem Leben in der Stadt. In diesem Rahmen wurden auch in Graz EU-geförderte Projekte umgesetzt, u. a. Trendsetter (2002–2006) mit 15 Maßnahmen um 12 Mio. Euro sowie Catalist (2007–2011). Die Stadt Graz bewarb sich letztes Jahr erfolgreich für die Ausrichtung des Europäischen CIVITAS Forums 2019.
Die Konferenz soll den Wissenstransfer zwischen den teilnehmenden Städten über Innovationen im Bereich der nachhaltigen städtischen Mobilität anstoßen. Dies gilt für innovative Mobilitätsprojekte sowohl bei der Infrastruktur als auch bei den Soft Measures. Insgesamt gab es dazu die beeindruckende Zahl von 150 Vorträgen in 30 Sessionen, die parallel in den Sälen des Congress Graz und im Grazer Rathaus stattfanden. Zusätzlich wurde den Gäste von auswärts Gelegenheit geboten, an Exkursionen teilzunehmen, die zu verschiedenen Grazer Projekten führten.
Eines der Ziele war die Smart City Graz im Westen der Stadt, die ja in den kommenden Jahren als Stadtteil im Zeichen nachhaltiger Mobilität mit moderner Infrastruktur und innovativen Verkehrskonzepten wachsen soll. Das beim Ausflug gezeigte green.LAB in der Waagner-Biro-Straße 99 gegenüber dem Science Tower soll zeigen, wie Begrünungsmaßnahmen und -technologien in der Baupraxis in modulare Holzgebäude integriert werden können. Diese dienen nicht nur dem Raumklima, sondern verbessern auch die Lebensqualität im ganzen Stadtteil. Das Lab wurde im April 2019 am neuen Standort eröffnet und versteht sich als Experimentierfeld für urbane Begrünung und Antwort auf den Klimawandel. Es fungiert dabei nicht nur als Vorzeigeprojekt, sondern bietet auch ein umfangreiches Veranstaltungs- und Workshop-Programm zu grüner Infrastruktur für Immobilienentwickler, Stadtplaner und allgemein daran interessiertes Publikum.
Es ist fast unmöglich, die Vielfalt der auf der CIVITAS-Konferenz behandelten Themen und Praxisbeispiele auch nur annähernd zu umreißen. Auf einen einfachen Nenner gebracht, geht es darum, neue Technologien wie digitale Mobilitäts-Apps und -Tools, E-Scooter und Online-Ticketing ebenso wie bewährte Bewegungsformen Zu-Fuß-Gehen, Radfahren und Öffentlichen Verkehr für eine umweltfreundliche Mobilität in den Städten zu kombinieren. Dabei steht der Erfahrungsaustausch zwischen den Netzwerkpartnerstädten im Vordergrund. Die zugrunde liegenden Konzepte beschreiben Akronyme wie SUMP – Sustainable Urban Mobility Plan oder MaaS – Mobility as a Service. Gemeint sind mit letzterem ganzheitliche Lösungen zur gezielten Förderung von Öffentlichem Verkehr, Fuß- und Radverkehr sowie Pooling- und Sharing-Angeboten, um den Autoverkehr in Städten und Stadtregionen wirksam zu vermindern. MaaS bedeutet aber mehr als Carsharing, E-Taxi-Angebot und Öffentlicher Verkehr, sondern umfasst weitere Mobilitätsservices, wie zum Beispiel ein Rufbussystem, Leihfahrräder oder Plattformen für Mitfahrgemeinschaften.
Von Seiten der Stadt Graz ist hier das Projekt tim – täglich.intelligent.mobil zu erwähnen, das seit 2016 sieben Standorte an städtischen Verkehrsknoten mit kombinierbaren Mobilitätslösungen ausgestattet hat, wie Mietfahrzeuge, E-Cars und Ladestationen. Eine weitere Aufstockung der Standorte ist geplant. Neben den Sitzungen mit den Vorträgen gab es im Congress Graz auch zahlreiche Ausstellerstände von öffentlichen Einrichtungen wie dem BMVIT und der Stadt Graz, ebenso wie von CIVITAS-Initiativen, Vereinen und kommerziellen Anbietern von Mobilitätslösungen und -Consulting, die mit Infomaterial für ihre Anliegen und Produkte warben.
Bei der abschließenden Plenardiskussion konzentrierten sich die Teilnehmer weniger auf vergangene Erfolge, sondern die großen Herausforderungen der Zukunft, wie das Wachstum der Städte, schädliche Emissionen und technologische Paradigmenwechsel. Prof. Peter Jones vom University College London betonte die Rolle der Universitäten für die Erforschung von Zukunftsszenarien am Beispiel des Projects CREATE. Michael Glotz-Richter aus Bremen hob hervor, dass die Politik heute zwar eher geneigt sei, auf die Vorschläge der Experten zu hören als früher. Allerdings sei hier speziell auf dem Gebiet des Carsharing noch viel zu tun. Karen Vancluysen aus Belgien forderte eine autonomere Rolle der Städte beim Finden von Lösungen, um den individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden. Karl Reiter von der FGM – Forschungsgesellschaft Mobilität rekursierte auf die radikalen Maßnahmen, die Graz in den 1980er Jahren gegen viele Widerstände gesetzt hatte, wie Ausweitung der Fußgängerzonen, ein Fahrradwegenetz und eine generelle 30-km/h-Zone abseits der Hauptstraßen. So vorbildlich diese Ideen und ihre Umsetzungen damals waren, reichen sie allerdings längst nicht mehr aus, um den motorisierten Individualverkehr zu zügeln. Dafür wird es nicht nur guten Willen, sondern auch zusätzliche Mittel brauchen.
Am Rande der Veranstaltung hat Stadträtin Elke Kahr den Appell der Fachleute aufgegriffen und unterstrichen, um mit Blick auf die kommende Regierung die unter dem Ex-Verkehrsminister vorbereitete Nahverkehrsmilliarde einzufordern. „Die Herausforderungen in den wachsenden Ballungsräumen sind riesengroß, und wir erwarten uns, dass nicht nur Wien hier substanzielle Unterstützung erfährt.“ Ein Betrag von 1 Mrd. Euro pro Jahr an nötigen Investitionen in den städtischen und stadtregionalen öffentlichen Verkehr wird laut Städtebund zum Ausbau von Infrastruktur und Betrieb im stadtregionalen ÖV nötig sein, um das Dekarbonisierungsziel zu erreichen und mehr Menschen zum Umsteigen auf öffentliche Verkehrsmittel mit alternativen Antrieben zu bringen.
An dieser Stelle ist kritisch anzumerken, dass aufgrund von Uneinigkeiten zwischen Stadt Graz und Land Steiermark seit über 15 Jahren bis heute keine Lösung für einen zentralen Busbahnhof in Graz gefunden werden konnte, die diesen Namen verdient. Der Zustand am Andreas-Hofer-Platz hat sich anscheinend trotz vieler Versprechungen und gegenseitigen Zuweisungen von Verantwortung als Dauerprovisorium etabliert – seit 2003 ohne Warteraum und ohne Überdachungen an den Haltestellen, die selbst in vielen Kleinstädten längst etablierter Standard sind.