Menschen fläzen sich in der Nachmittagssonne, Kids im Parkhaus bei Kaffee oder Bier, Marathonläufer queren den Park und erst beim zweiten Hinsehen, die Kunstakteure, auf dem Rasen eingerollt oder hingekauert wie lebendige Skulpturen von Henry Moore. Irgendwann stehen sie auf und gehen in zwei Reihen aufeinander zu, bis sie zu einer verschmelzen. Worauf sie singend den Park durchkämmen, vorbei an Zusehern, Marathonläufern und Faulenzern um später die Zuseher ins Gespräch zu ziehen. In dieser Performance von Tino Sehgal, vielleicht der besten des Festivals, werden Kunst und Öffentlichkeit, Ausnahme und Alltag fast ununterscheidbar und damit eine der Bedeutungen des herbst-Mottos The Way Out eingelöst.
Rund 35 Künstler*innen und Kollektive wagten den Ausbruch aus den White Cube der Kunstwelt, zehn zum Teil mittelprächtige Bilder bzw. Plakate von Künstler*innen an 140 Stellen im erweiterten Stadtraum Graz wurden geschätzte 44.800 Mal gesehen, ganz zu schweigen von dem Liebesbrief Paul B. Preciados, der an 93.000 Grazer Haushalte verschickt wurde. Und im Eröffnungsevent beschwor Intendantin Ekaterina Degot schon fast ekstatisch den Ausstieg nicht nur aus dem engeren Kunstbereich sondern aus fast allem: „Ich will raus. Raus aus dem Lockdown. Raus aus der Pandemie, und raus aus den Maßnahmen gegen sie. Raus aus der Krankheit und raus aus der Hygiene. Raus aus der Gefahr, und raus aus der Sicherheit. Ich möchte raus aus diesem Zaun hier um uns herum.“ Nur wohin es genau gehen sollte blieb – frei nach Qualtingers Song I waß net wohin i wüll, aber dafür bin i schneller durt – etwas unklar.
Das Publikum jedenfalls nahm die Fluchtbewegung an. Knapp 46.000 Besucher*innen erlebten die Interventionen und Arbeiten von The Way Out und seiner Parallelprogramme (Konferenz – Transformation zu den laufenden Weltproblematiken im Forum Stadtpark, Festival STUBENrein in Murau, Literatursymposion Out of Joint im Literaturhaus und Musikprotokoll) 90 Prozent der Besucher*innen des Festivals kamen aus Österreich, gefolgt von Gästen aus Deutschland, Slowenien, Kroatien, den USA, Griechenland, Polen und der Schweiz. 24.500 Mal wurde aus 63 Ländern auf die Inhalte von The Way Out zugegriffen. 77 Prozent der Besucher*innen des steirischen herbst 2021 waren unter 55, die größte Besucher*innengruppe bildeten die bis 35-jährigen. Und so weiter und so weiter, besser geht`s eigentlich nicht.
Und doch:
Die Instrumente des avancierten Kunstbetriebes und damit des steirischen herbst sind stumpf geworden: "Kunst im öffentlichen Raum" – hierzulande längst auf Beamtenebene implementiert; "Animation und Publikumsbeteiligung“ – Klassiker div. Kulturinitiativen; "mediale Erkundungen von Lebenswelten“ – radikaler als die "Lageberichte“ war schon das Bürgerfernsehen, entstanden mit der Entwicklung der längst vergessenen U-Matic-Videogeräte. Mit seinem verstärkten Fokus auf Niederschwelligkeit und Vermittlungsleistungen, auf Besucher*innenzahlen und lobende Erwähnung in den Medien, gleicht das Festival wie die Kunstszene generell zusehends einem Dienstleistungsbetrieb, Teil jenes Betriebs, den der steirische herbst doch durch seine Arbeiten hinterfragen will. Und die traditionelle herbst-Konferenz zum Abschluss wirkt – sorry – seit längerem wie der Jahresbericht eines mittelständischen Unternehmens. Um es klar zu sagen: Das liegt keineswegs an einer konzeptionellen Schwäche der Intendantin Ekaterina Degot, die ihren Argumentationsspagat zum jeweiligen Herbstmotto quer zum sprachlichen Hochseil vorführt ohne je abzustürzen. Und es liegt schon gar nicht an ihrem Dienstpersonal, den professionellen und sehr hilfsbereiten Mitarbeiter*innen.
Woran dann?
Das alljährliche Esemble aus berühmten Gast- bzw. Großkünstlern, bewährten heimischen Kräften und dem Rahmenprogramm örtlicher Institutionen, vereint unter dem Bedeutungsschirm eines Mottos, führt zwar wie heuer zu durchaus großartigen Ergebnissen. Andererseits werden Festivals ähnlich wie Hotels unter A , B oder C kategorisiert. Wo da der steirische herbst rangiert, muss man nicht erörtern. Aber auch für ihn ergeben sich systemische Widersprüchlichkeiten. Einerseits muss er sich um Alleinstellungsmerkmale bemühen, andererseits ein gleichbleibendes Niveau halten. Das Problem liegt also an der Unvereinbarkeit von Innovation und Erwartungshaltung; gesucht wird der gezähmte Skandal, der ein Maximum an Erregung mit gesellschaftlicher Verträglichkeit verbindet. Ein Dilemma, das durch die häufige Bezugnahme auf legendäre herbst-Skandale illustriert wird. Und selbst wenn sich die Motti ändern, die Struktur bleibt die Gleiche, was sich in einander ähnlichen Produktionen niederschlägt. Ob der Dienstleistungsbetrieb Festival, wahrscheinlich der Kunstbetrieb insgesamt, verändert werden kann, bleibt ohne radikale Selbstreflexion (Out of „The Way Out“) unlösbar.
Wie sich dem allgegenwärtigen Diskursrauschen entziehen, von dem man gleichzeitig Teil und Kommentar ist? Wie auf ein „bildgebendes“ Ereignis (Leuchtturmprojekt) fokussieren, ohne damit einen Aufstand der Mitveranstalter zu initiieren? Oder umgekehrt, wie das Programmatische dem Zufall oder der radikalen Subjektivität eines einzelnen Künstlers überlassen, ohne sich als Intendant abzuschaffen? Wie der eigenen Musealisierung und Akademisierung entgehen, für die nun im Palais Attems in der ehemaligen Hausmeisterwohnung ein fabelhaftes neues Archiv existiert. Wie rauskommen aus diesen überflüssigen Fragen, die schon vor Jahrzehnten durch den Wechsel vom Direktions- zum Intendantenprinzip nicht gelöst wurden?