Als vor 15 Jahren von den Protagonisten Wolfgang Richter, Thomas Forsthuber und Christian Schmirl das Salzburger Modell prozesshafter Architekturvermittlung in der Broschüre Denken, Fühlen, Bauen vorgestellt wurde, setzte diese Veröffentlichung einen Meilenstein in der österreichischen Architekturvermittlungsarbeit. Seit 1997 wurden im Rahmen dieses Modells von ArchitektInnen und PädagogInnen fächerübergreifende Unterrichtsprojekte für unterschiedliche Schultypen mit dem Ziel erarbeitet, Kreativität als zukünftige Schlüsselqualifikation zur ganzheitlichen Persönlichkeitsbildung durch prozess- und projektorientierte Methoden in den Schulen zu etablieren. Ergänzend zur kognitiven Wissensvermittlung treten die sinnlich-haptische Wahrnehmung und deren gestalterische Umsetzung in den Vordergrund. Daraus entwickelt sich ein dreipoliges Spannungsfeld zwischen individueller (Selbsterfahrung, Selbstdarstellung), sachlicher (Raum- und Materialerfahrung und Produktorientierung) und sozialer (Kooperation, Reflexion, Kommunikation und Präsentation) Dimension. Diese drei Pole verknüpfen das jeweilige Thema und bauen damit auf aktuelle erziehungswissenschaftlichen Theorien auf.
Seit Beginn dieses Vermittlungsmodells, aber auch aufbauend auf einen Erlass des Unterrichtsministeriums zur Veranstaltungsreihe Der Architekt kommt an die Schule aus dem Jahr 1988, wurde österreichweit eine Vielzahl an Methoden, Initiativen und Projekten für alle Altersstufen und Schultypen initiiert, die Architekturverständnis wecken, Gestaltbarkeit und Beeinflussbarkeit von gebauter Umwelt aufzeigen und im Sinne des Projektunterrichts die Grenzen zwischen schulischem und außerschulischem Lernen aufheben. Getragen wurden und werden diese Initiativen von öffentlichen Architektur- und Vermittlungsinstitutionen, Stiftungen, Vereinen, usw. die sich über institutionelle Strukturen und Vernetzungen in Form von Tagungen, Symposien und Workshops bemühen, zu einer Professionalisierung der Architekturvermittlung beizutragen. Aber auch eine Vielzahl von ArchitektInnen aus allen Bundesländern leistet in Form von hochengagierten Einzelprojekten einen wesentlichen Beitrag, um über ihre Vermittlungstätigkeit lebenswerten und qualitätsvollen Umraum zu veranschaulichen und erlebbar zu machen.
All dem steht aber das Manko einer noch weitgehend fehlenden didaktischen Ausbildung sowohl der PädagogInnen als auch der ArchitektInnen an den jeweiligen Ausbildungsstätten gegenüber. Ziel muss es sein, Architekturvermittlung zu einem festen Bestandteil des Kompetenzprofils von Architektur- und PädagogInnenausbildung zu machen, um so kontinuierlich innovative Vermittlungsformate zu entwickeln, zu evaluieren und damit Wirkungskontrolle zu sichern. Erst die institutionelle Einbindung der Architekturvermittlung in den Kontext schulischen Lernens über Lehr- und Lernzielvorgaben, begleitet von selbstbestimmter Autonomie, garantiert dauerhafte Bedeutung und Fortentwicklung der Architekturvermittlung. Dazu ist aber auch eine Schulstruktur nötig, die fächerübergreifenden und themenzentrierten Unterricht, Blockveranstaltungen und Projektunterricht als fixe Elemente des Schulalltags ermöglicht.
Es ist zu hinterfragen, ob die kurzfristige Einführung der Neuen Mittelschule (NMS) uns diesem Ziel näher gebracht hat und ob die Individualisierung im Unterricht, also der Umgang mit heterogenen SchülerInnengruppen, mit Teamteaching und Binnendifferenzierung sowohl in der PädagogInnenausbildung als auch in der Gestaltung der Lehrpläne im verfügbaren Zeitrahmen nachhaltig umsetzbar waren. Auch konnte die Realisierung neuer Schulbauten mit zukunftsorientierten Raumkonzepten bzw. die Adaptierung von Bestandschulen zu ganztagstauglichen „Lernwerkstätten“ auf Basis unterschiedlicher Fachbereiche und Lernzonen nicht mit dem Erwartungsdruck der NMS mithalten. Dies ist vor dem Hintergrund parallel geführter AHS-Langformen zu sehen, wobei im parteipolitischen Diskurs das Ergebnis der ersten Evaluierung der NMS mit ernüchterndem Ergebnis als Rechtfertigung für den Fortbestand des „Zwei-Klassen-Modells“ im österreichischen Schulsystem missbraucht wurde. Verstärkt wurde dieser parteipolitische Grabenkampf durch Statements wie z.B. „Es ist Sozialromantik, dass die guten von den schlechten Schülern profitieren“. Die Erziehungswissenschaftlerin Gertrud Nagy (1) hält diese Aussage für den klassischen, aber ungerechtfertigten Vorwurf gegen die Gesamtschule. Für sie gilt, dass man bei ernst zu nehmender Individualisierung alle SchülerInnen erreichen kann. Der tatsächliche Knackpunkt aber sei: soziale Gerechtigkeit und Bildungschancen für alle.
Mit dem Vorliegen des Ergebnisses einer landesweiten Studie zum Thema der gemeinsamen Schule der 10- bis 14Jährigen in Vorarlberg, begonnen im Februar 2013 mit ca. 20.000 Befragten (PädagogInnen, SchülerInnen und Eltern), hat sich die Ausgangssituation für die Gesamtschule radikal geändert. Es gilt der politische Konsens, mittelfristig – man rechnet mit 8 bis 10 Jahren – in Vorarlberg die Gesamtschule für 10- bis 14Jährige einzuführen, unter gleichzeitigem Verzicht auf die AHS-Langform. Damit scheint die Abhängigkeit der Entscheidung über die Bildungschancen für SchülerInnen von a) der Wohnregion und b) dem Bildungshintergrund der Eltern der Vergangenheit anzugehören. Förder- statt Defizitorientierung soll im neuen Schulsystem Einzug halten und damit ein chancengerechtes und dennoch leistungsorientiertes System schaffen.
Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für diese Schulreform sind allerdings im Bund zu treffen und damit ist für folgende Änderungen eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat notwendig:
- Verfassungsrechtlich festgelegt ist nämlich ein differenziertes Schulsystem der 10- bis 14-Jährigen
- Aufnahmebedingungen in AHS-USt
- Die Frage der Schulerhalter
- Das LehrerInnen-Dienstrecht
Die in der Studie aufgelisteten Schwerpunktthemen zum pädagogischen Inhalt der Schulreform,
- pädagogische und didaktische Konzepte in den Schulen weiterentwickeln
- multiprofessionelle Teams in den Schulen stärken
- ganztägige Schulformen ausbauen
- Gestaltungsautonomie der Schulen fördern (2)
rechtfertigen einen vorgeschlagenen Durchführungszeitraum von 8 bis 10 Jahren.
Im Kontext dieser gesellschaftlichen und bildungspolitischen Entwicklung kann Architekturvermittlung als Querschnittsmaterie mit ästhetisch-formalen, sinnlich-emotionalen und sozialen Aspekten einen wichtigen Baustein für die neue Gesamtschule darstellen. Denn Fachwissen, Kreativität und eigenverantwortliches Denken und Handeln bilden die Grundlage jeder sozialen Gesellschaft. Die ArchitektInnenschaft kann und soll im Bewusstsein einer 20jährigen Erfahrung und eines daraus resultierenden reichhaltigen Fundus ihren Beitrag dazu leisten.
(1) Vgl. Gertrud Nagy: „Die Angst der Mittelschicht vor der Gesamtschule“ (edition innsalz Verlag)
(2) Athanasia Siegl-Hadjiioannou: „Architektur als Wahlpflichtgegenstand an der AHS“, GAT-Essay, 29.10.2014