10/11/2023

Die Ausstellung „Zwischen Kostenschätzung, Muttermilch und Bauwende“ im Architekturzentrum Wien richtet den Fokus auf eine junge Generation von Architekturschaffenden. Sie setzen auf interdisziplinäre Zusammenarbeit statt auf Selbstausbeutung und Konkurrenz, auf Bestand statt Neubau und sehr stark auf Kommunikation. Diese Ausstellung ist ein gutes Beispiel dafür.

10/11/2023

Ausstellungsansicht Zwischen Muttermilch und Bauwende, Az W Wien 2023

©: Isabella Marboe

Besucher:innen können in der Ausstellung selbst die Themen der jungen Architekt:innen kommentieren.

©: Isabella Marboe

Ausstellungsansicht mit Infozetteln zu den Themen junger Architekt:innen, Zwischen Muttermilch und Bauwende, Az W Wien 2023

©: Isabella Marboe

Ein hartes Studium, drei Jahre Praxis und eine erfolgreich bestandene Ziviltechnikerprüfung: Der Weg zur Architektenbefugnis ist lang und steinig, er war es immer schon. Dazu kommt ein starker Leistungsdruck in einem hochkompetitiven Beruf, der mindestens den ganzen Menschen fordert. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Ein Berufsbild, mit dem sich eine junge Generation von Architekturschaffenden nicht mehr identifizieren will. Ihre Prioritäten liegen woanders.

„Zwischen Kostenschätzung, Muttermilch und Bauwende“ heißt eine aktuelle Ausstellung im Architekturzentrum Wien, die den Blick auf Positionen der jungen Generation richtet. Die Forderung nach einer „Architecture – Life-Balance“ ist eine davon. An die sechzig Architekturschaffende aller österreichischer Architekturfakultäten zwischen Mitte zwanzig und Anfang vierzig haben sich ab Herbst 2020 in mehreren Workshops getroffen, um über die Themen zu diskutieren, die ihnen unter den Nägeln brennen. Das Kuratorinnenteam – Solveig Furu Almo, Ella Felber, Anna Firak, Silvester Kreil, Lukas Pankraz Mähr, Natascha Peinsipp, Theresa Reisenhofer und Felix Steinhoff – destillierte daraus sieben Kapitel und gestaltete die Ausstellung.

Um-, Zu-, An- und Ausbau

Eine sehr steile, ephemere Dachkonstruktion aus aneinander geschraubten Holzlatten fungiert gleichermaßen als Raumstruktur, Interaktionsfläche, Display, Informationsträger: Hier sind Texte, Statistiken, Zeichnungen, Fotos und Zitate aufgehängt und angepinnt. Diese Struktur ist garantiert demontabel, wieder verwendbar und offen. In der Mitte stehen ein Tisch und Hocker, Stifte fordern Besuchende zu Kommentaren auf, die Tischplatte ist schon voller Zeichnungen und Worte, Linien am Boden verweisen auf Bezüge zwischen den Themen.

Junge Architekturschaffende von heute sind von den Auswirkungen des Klimawandels stärker betroffen als jede andere Generation vor ihnen. Diese Herausforderung ist nur gemeinsam zu bewältigen. Deshalb setzen sie wesentlich stärker auf interdisziplinäre Teamarbeit und Kommunikation. Prozesse sind ihnen wichtiger als Neubau, der aus der Perspektive der CO2 – Reduktion für sie stark an Strahlkraft verloren hat. Dafür stehen zirkuläres Bauen, Zu-, Um-, An- und Ausbauen ganz hoch im Kurs. Geht es nach der jungen Generation, sollten diese Themen auch in der Ausbildung einen wesentlich höheren Stellenwert genießen.

Architecture-Life-Balance

Das heroische Bild des Künstlerarchitekten mit dem absoluten Willen zur genuin-eigenständigen Gestaltung um den Preis der Selbstausbeutung ist überholt. Die junge Generation wünscht sich bessere Arbeitsbedingungen, faire Entlohnung und pocht auf ihr Recht eines Lebens neben der Architektur. Den Vorwurf der Älteren, keine Arbeitsmoral zu haben, nimmt sie mit Erstaunen zur Kenntnis. Das Kapitel „Vom Anfangen und nicht scheitern“ widmet sich den unterschiedlichen Wegen zum Beruf, den Möglichkeiten, die Ziviltechnikerprüfung zu umgehen und den diversen Tätigkeitsfeldern, die er bietet. Es analysiert den Anteil der Selbständigen, Angestellten, freien Dienstnehmer und Mischformen unter den beteiligten Architekturschaffenden, sehr deutlich wird, dass die allermeisten im Kollektiv arbeiten. „Bildet Banden und streut Seedbombs“: mit diesem Aufruf appellieren junge Architekt*innen daran, statt auf Konkurrenz auf Vernetzung und gegenseitige Unterstützung zu setzen. Besonders wichtig ist das für Frauen: Immer noch klafft eine große Lücke zwischen den 52% Frauen, die Architektur studieren und den 11%, die schließlich ein Büro führen. Frauen sind im Beruf immer noch strukturell benachteiligt, sie werden oft bei Wettbewerben, weil weniger als Projektleiterinnen eingesetzt. Letzteres ist in Teilzeit oder mit Sorgearbeit für Kinder schwer zu schaffen. Bei den Workshops für diese Ausstellung, die meist an Wochenenden stattfanden, wurde auch eine Kinderbetreuung organisiert.

Grundsatzfragen

„Wer gestaltet Raum für wen? Wer finanziert Wohnraum für wen?“ Fragen wie diese beschäftigen eine junge Generation an Architekt*innen, die sich Raum wünschen, der inklusiv und für alle zugänglich ist. Ihre Kritik macht auch vor Baugruppen nicht Halt. Diese erfordern oft ein Grundkapital an Bildung, Zeit, Geld und Geduld für partizipative Prozesse, das meist nur Menschen aus der oberen Mittelschicht aufbringen können. Leistbarer Wohnraum lässt sich so nicht schaffen, wesentlich vielversprechender ist da der Fokus auf den Leerstand. Dazu findet sich hier eine Studie der Arbeiterkammer, die aufzeigt, dass ein Fünftel aller neu gebauten Wohnungen in Wien nicht bewohnt werden. Junge Architekturschaffende fordern eine bedürfnisgerechtere Planung und schlagen dafür zwei weitere Leistungsphasen in der Honorarordnung der Architekten und Architektinnen vor: eine Phase 0 vor der Grundlagenvermittlung und eine Phase 8 nach der Schlüsselübergabe. Dann nämlich beginnt erst der spannende Teil: Das Beleben und die Aneignung des Projekts durch die Menschen, die es nutzen. Dieser Prozess ließe sich mit interdisziplinären Teams und Partizipationsexpertinnen noch begleiten und später evaluieren.

Am interessantesten ist es, die kleinen Kärtchen zu lesen, die überall angepinnt sind. Darauf stellen Büros einige ihrer Projekte vor, die sie besonders mögen. Sie reflektieren aber auch sehr aufrichtig über ihre Tätigkeit, eine junge Architektin hat ein „Fehlertagebuch“ verfasst. Nur aus Fehlern kann man lernen, sie zu zeigen, gibt auch anderen die Möglichkeit dazu. „Wir wollen es anders machen als die Generation vor uns“, schrieb da jemand. Oder: „Architektur 24/7 überfordert mich, da bin ich dann froh, dass ich mich um meinen Hof und die Schafe kümmern kann/muss, um von der Kopfarbeit wegzukommen.“ Es gibt viele Möglichkeiten, den Architekturberuf auszuüben. Diese Ausstellung gibt einige Anstöße dazu.
 

Diese Ausstellung ist noch bis zum 20.11.2023 im Az W zu sehen.

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