23/11/2022

Im Dezember soll der neue City-Tunnel für die S-Bahn im Grazer Gemeinderat beschlossen werden. Nimmt man diese dann auch demokratisch legitimierte Entscheidung zum S-Bahn-Ausbau zur Kenntnis, stellen sich viele Fragen für die weiteren Planungen dieses Jahrhundertprojekts. Entscheidend für dessen Zukunftstauglichkeit wird die Beteiligung von Expert:innen und der Öffentlichkeit sein.

23/11/2022

Zukünftiges S-Bahnnetz der Stadt Graz mit Anbindung an den steirischen Zentralraum laut Studie der Hüsler AG, PRIMEmobility und GVS, vom 7.11.2022

Jetzt ist es also fix: Graz will den City-Tunnel für die S-Bahn. Die Grazer Rathaus-Koalition (KPÖ, Grüne, SPÖ) hat sich Anfang November auf die Durchführung der S-Bahn durch die Grazer Stadtmitte verständigt und eine konkrete, vom Schweizer Verkehrsexperten Willi Hüsler konzipierte Trasse vom Hauptbahnhof über eine neue Station am Jakominiplatz bis zum Ostbahnhof festgelegt (Bild). Diese Entscheidung, die einen endgültigen Schlussstrich unter sämtliche Gondel- und U-Bahn-Pläne der letzten Jahre zieht, sollte man nicht unterschätzen. Sie wird massive Auswirkungen auf die kommenden Jahrzehnte der Stadt- und Regionalentwicklung im Großraum Graz haben.

Zunächst ist der neue City-Tunnel, der frühestens ab 2030 gebaut werden soll, als Bekenntnis zur S-Bahn positiv zu bewerten. Der Tunnel stärkt das vorhandene, Stadt und Umland verbindende S-Bahn-Netz, wo für den öffentlichen Verkehr tatsächlich am meisten zu holen ist. Denn während bereits heute 45 Prozent der 700.000 täglichen innerstädtischen Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden, beträgt der Anteil des öffentlichen Verkehrs bei den 450.000 täglichen Fahrten über die Grazer Stadtgrenze gerade einmal 15 Prozent. Für all jene, die täglich mit dem Auto nach Graz einpendeln, wird die S-Bahn also bald eine echte Alternative sein, um umstiegsfrei aus dem Umland direkt ins Zentrum der Stadt zu kommen. Außerdem wird der City-Tunnel aller Voraussicht nach durch den Bund mitfinanziert – es winkt eine mögliche Beteiligung zwischen 50 und 80 Prozent.

Auch aus Sicht der Stadtentwicklung ist die Stärkung des S-Bahn-Netzes positiv, da so wichtige Wachstumsimpulse entlang aller bestehenden S-Bahn-Trassen  –  das sind allein im Grazer Stadtgebiet immerhin rund 40 Kilometer  –  gesetzt werden können. Außerdem verlaufen diese Trassen genau dort, wohin sich die Stadt zukünftig entwickeln wird: im Süden der Stadt. Auch die im von Hüsler vorgelegten S-Bahn-Konzept angedachte neue Südspange am südlichen Stadtrand zwischen Raaba und Flughafen Graz wird ein wichtiger Systemschluss für die dortigen, dynamisch sich entwickelnden Erweiterungsgebiete sein.

Es ist aber auch die Stadtentwicklung, wo die Kritik am City-Tunnel ansetzt. Zum einen fußt der City-Tunnel auf rein verkehrlichen Überlegungen; Aspekte der Stadtentwicklung, also die Frage, welche Stadtgebiete nicht nur heute, sondern vor allem in Zukunft öffentlich erschlossen werden sollen, blieben bisher völlig außer Acht. Dabei geht es gerade auch um die Zukunft: Der 3,1 Milliarden Euro teure City-Tunnel ist die mit Abstand größte öffentliche Investition, die Graz seit der Gründerzeit tätigt. Diese sollte wohlbegründet sein, will sie kommende Debatten schadlos überstehen. Die Kritik am City-Tunnel, das ist schon jetzt absehbar, wird sich vor allem daran festmachen, dass diese neue unterirdische Verbindung bestehende Straßenbahnlinien verdoppelt, aber auch daran, dass entlang ihrer Trasse, die durch dicht verbautes Stadtgebiet führt, keinerlei neue Wachstumsimpulse für die Stadt zu holen sind. Außerdem wird die ohnehin schon problematische Zentralisierung des öffentlichen Verkehrs in Graz durch den City-Tunnel weiter einzementiert. Der Jakominiplatz bleibt zentrale Drehscheibe und wird ein zusätzliches Verkehrsaufkommen – wir sprechen von rund 100.000 neuen S-Bahn-Fahrgästen täglich – bewältigen müssen.

Es ist an dieser Stelle auch noch einmal die Strukturfrage zu stellen: Braucht Graz transversale oder tangentiale neue Verbindungen für den öffentlichen Verkehr? Die S-Bahn ist ein regionales Verkehrsmittel, sie eignet sich zur Urbanisierung von Flächenbezirken und deren Vernetzung mit dem Umland – siehe Paris, Berlin, München. Für Graz müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die Innenstadt nicht mehr das ultimative Ziel aller Wege ist, vielmehr geht es im Alltag um die Erreichbarkeit der großen Betriebe wie Wirtschaftskammer, Universität, LKH, und um die Einbindung der großen Wohnanlagen in Waltendorf und St. Peter in den regionalen Kontext. Und es geht darum, dem florierenden und sich selbst verstärkenden automobilen System in den Grazer Stadtrandgebieten etwas entgegenzustellen. Mit anderen Worten: Graz benötigt einen S-Bahn-Gürtel im Osten der Stadt, aber auch Ost-West-Verbindungen in den südlichen Stadtgebieten. Der transversale City-Tunnel ist vor diesem Hintergrund kein Beitrag zu einer zukunftsweisenden Stadtstruktur.

Im Dezember soll der neue City-Tunnel im Gemeinderat beschlossen werden. Wenn man diese dann auch demokratisch legitimierte Entscheidung zur Kenntnis nehmen will, stellen sich viele Fragen für die weiteren Planungen dieses Großprojekts.

Zunächst verkehrlich: Wie kann die S-Bahn durch die Erhöhung der Taktfrequenz, durch den Ausbau der S-Bahn-Bahnhöfe in und um Graz zu attraktiven, intermodalen Umstiegspunkten, aber mittelfristig auch durch den Bau weiterer S-Bahn-Trassen in derzeit unterversorgte Stadtgebiete zu einem echten Erfolg gemacht werden? Kann man sich ein Sowohl-als-auch, also Transversale plus Tangentiale vorstellen, und wenn ja, was ist die richtige Abfolge? Welche Push-Maßnahmen wird es aber auch brauchen, um mehr Menschen zum Umstieg auf die S-Bahn zu bewegen – Stichwort regionale MIV-Maut, Stichwort Reduktion der Parkplatzanzahl, Rückbau mehrspuriger Straßen, flächendeckendes Tempo-30-Limit?

Dann Stadtentwicklung und Stadtplanung: Wie können die erwartbaren Wachstumsimpulse entlang des S-Bahn-Netzes dazu genützt werden, um Graz und sein Umland – in diesem Ballungsraum leben immerhin 637.000 Menschen – als einen auch stadträumlich gedachten zusammenhängenden Siedlungsraum zu entwickeln (Stichwort „Grand Graz“)? Wie können insbesondere im Grazer Stadtgebiet die neu entstehenden Subzentren rund um die S-Bahnhöfe dazu genutzt werden, um das Stadtzentrum zu entlasten und Graz zu einer polyzentrischen Stadt zu entwickeln? Welche stadträumlichen Qualitäten erwarten wir uns in diesen neuen Zentren hinsichtlich Bebauungsdichte, Bebauungshöhe, öffentlicher Raum, aber auch in Bezug auf programmatische Angebote wie öffentliche Einrichtungen, Bildung, Arbeit, Freizeit?

Zusätzlich stellen sich mit Blick auf die zukünftigen Hauptverkehrsnoten des neuen S-Bahn-Netzes – Jakominiplatz, Hauptbahnhof, Ostbahnhof und Nahverkehrsknoten Gösting – bereits jetzt schon architektonische Fragen. Welche gestalterische Bedeutung soll an diesen Orten zukünftig der öffentliche Raum haben, welche der Verkehr? Auch Fragen der baulichen Nachverdichtung rund um alle oben genannten Hauptverkehrsknoten sollten kein Tabu sein.

Nicht zuletzt gilt es aber auch Fragen der Verteilungsgerechtigkeit zu klären. Wenn Private von der Wertsteigerung entlang des durch die öffentliche Hand ausgebauten S-Bahn-Netzes profitieren, muss die Frage gestellt werden, wie ein Anteil dieser Wertsteigerung an die öffentliche Hand rückgeführt werden kann. Das Instrument des Planwertausgleichs, in mehreren Ländern wie der Schweiz bereits erfolgreich angewandt wird, kann hier Antworten geben.

Graz hat mit dem Bekenntnis zum S-Bahn-Ausbau im Stadtgebiet eine wichtige Grundsatzentscheidung für die Zukunft der Stadt und ihres Umlands gefällt. Die Arbeit an der sinnstiftenden Umsetzung dieser Entscheidung beginnt aber gerade erst. Wesentlich für die Zukunftstauglichkeit aller weiteren Planungen der Stadt Graz wird es sein, Expertinnen und Experten aus allen oben genannten Fachbereichen – Stadtentwicklung, Stadtplanung, Verkehrsplanung und Architektur – einzubinden, aber auch die öffentliche Debatte zu suchen, um den notwendigen öffentlichen Rückhalt für dieses Jahrhundertvorhaben zu schaffen.

Eduard Falk

Der geplante Tunnel im Zentrum bedeutet allein sehr wenig für die Verkehrsproblematik der Stadt Graz! Einige Gründe dafür:
1. Zeitplan: Jetzt einen Baubeginn wenig ambitioniert für 2030 anzukündigen, bedeutet eine Wirksamkeit der Maßnahme kaum vor 2040. Somit ist klar, dass alle kleinen aber sofort greifenden Maßnahmen mehr Effekt erzielen würden. Gerade in einer Zeit mit immer kürzeren Zyklen der technischen Entwicklung sind Langzeitprojekte überhaupt nicht sinnvoll (die Digitalisierung verändert ja gerade den Verkehr). Und leider stimmt es, dass innerstädtischer Tunnelbau in jenen Städten besonders langsam vorangeht, wo überhaupt keine Übung in solchen Dingen vorhanden ist.
2. Umstieg auf öffentlichen Verkehr: Ein einzelner Tunnel unter einem bereits vorhandenen System wird nicht zum großen Umstieg motivieren. Der Trigger ist die Wechselzone von der morgendlichen Auto- oder Rad - Fahrt zur nächstgelegenen Station auf das erste öffentliche Verkehrsmittel. Das ist eine Bahn- oder Busstation im Umland von Graz. Ein 5 km KURZER Tunnel wird die Beurteilung der Gesamtstrecke nicht revolutionieren.
3. Sinnhaftigkeit von Autofahrten und Radfahrten: Die angebotenen Systeme sollten eine mehrheitsfähige Unterscheidung zwischen sinnvollen und mehrwertlosen Autofahrten nahelegen. Wenn die Parkmöglichkeiten an den möglichst weit außen liegenden Übergabestellen nicht klar als Vorteil erkennbar sind, wird keine Lenkung erfolgen.
4. Graz leidet unter dem Grundproblem, dass radiale Hauptverbindungen nicht durch Ringverbindungen ergänzt werden. Vorranging wäre ein Straßenring zu sehen und danach erst die öffentliche Spange. Damit könnte auch die Zahl der übergabestellen an den öffentlichen Verkehr reduziert werden, weil "ein Tal weiter" der große Parkplatz und die Schnellbahn winken (Beispiel Zufahrt von Mariatrost zu den Autobahnen, Erreichen des LKH von Straßgang usw.).
5. Das HINAUSEKELN des Individualverkehrs aus der Stadt durch möglichst aufreibende Rahmenbedingungen hat mittelfristig den Effekt des Aushungerns der Betriebe im weiteren Zentrum. Das führt zum Nachrücken einer minderwertigen Nutzung, wie sie in Graz gerade im Gange ist. Das Wesentliche am Flair einer Stadt geht damit verloren - das Verkehrsproblem ist damit aber nicht gelöst.
6. GROSSE LÖSUNG: Es gibt sogar zwei große Lösungen. Beide erfordern jedoch politischen Mut. Mit der Erkenntnis, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit von Autos in einem weiten Bereich der Stadt nicht mehr als 20 km/h beträgt, sind beide Lösungen im Rennen: a) Eine auf weite Bereiche der Stadt ausgedehnte BEGEGNUNGSZONE. b) Die ENTFLECHTUNG der Verkehrsmittel.
7. Begegnungszone: Ist in vielen Straßen schon verwirklicht, aber nicht als solche gekennzeichnet. Mit der Kennzeichnung würde sich der Anspruch der Realität annähern. Die Kosten dieser Maßnahme liegen nur in den Parkmöglichkeiten, die das Fahren von Autos auf einem großen Prozentsatz der vorhandenen Verkehrsflächen reduzieren würde. Es geht um ein Netz von Stützpunkten, zwischen denen zu Fuß gehen automatisch die beste Lösung ist. Und falls das utopisch klingt: Die faktische Besetzung der Gehsteige durch Radfahrer ist schon Tatsache, aber keine gute Lösung.
8. Entflechtung: Radwege funktionieren nur, wenn sie breit genug und durchgängig sind. Wir haben uns an ein völlig kleinkartiertes und gefährliches System von Radwegen gewöhnt, das jedoch viele Strecken wenig attraktiv macht. Abstellplätze fehlen. Öffentliche Verkehrsmittel funktionieren nur, wenn ihnen Korridore zur Verfügung stehen. Kleinstmaschiger Mischverkehr wie in Graz ist ein brutales Missverständnis öffentlicher Verbindungen. Dafür müssten Straßen für eine vorrangige Nutzung definiert werden. Das gilt auch für den Autoverkehr. Viel zu schmale Straßen mit Parkenden auf beiden Seiten und Radverkehr zwischen Autos und Bussen sind die Karikatur eines modernen Verkehrs! Aber ohne die Grätzelgaragen und mehr für zusammenhängende Verbindungen (egal ob Rad, Auto oder Bus) zur Verfügung stehende Straßenzüge wird das nicht gehen. Auch nicht ohne ideelle Kreis - Systeme, die ampelfrei um ganze Plätze oder Häuserblocks geführt werden.
9. RESPEKT: Die Verfechter von Lenkungsmaßnahmen aller Art vergessen allzu gern, dass es unterschiedliche Lebensmodelle und Lebensphasen gibt - die jedoch fast alle ihre volle Berechtigung haben. Zwei Wochen in der Stadt Parken für einen Halbtagsausflug am Wochenende. Autofahrt durch die Innenstadt auf dem Weg zu einem Arbeitsplatz in 30 km Entfernung ohne Bahnanschluss. Eine Innenstadt voll sich drängender Zusteller, weil ihnen die Flächen absichtlich eng gemacht wurden usw. usw.
10. VOLKSWIRTSCHAFT: Die einzige sofort wirkende Maßnahme ist der Verzicht auf Konsum! Keine Ausflüge, keine Einkäufe, keine Lokalbesuche. Kein zweiter und dritter Wohnsitz und mehrere Firmenstandorte. LEBEN MIT LEICHTEM GEPÄCK! Klingt auch utopisch, aber nur wegen der auf sinnlosen Konsum und Pseudo - Effizienz ausgerichteten Marketing - Maschinerie. Die Armutsschwelle liegt viel zu nahe am übertriebenen Konsum: Mit wenig Geld lassen sich in unserer inflationären Warenwelt noch immer Unmengen an wertlosen und sinnarmen Dingen kaufen, die auf einer Spur der wenig nachhaltigen Produktion und Logistik zu uns kommen.
FAZIT: Ohne eine ganze Reihe von Begleitmaßnahmen und politischen Bekenntnissen ist dieser GRAZER SBAHNTUNNEL SINNLOS.

Di. 29/11/2022 15:46 Permalink
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+