Von trauernden Weiden und zitternden Pappeln: Schreibstunde an der Telegraphenlinie
„[D]ie Möglichkeit des Weges und der Differenz als Schrift müßten einmal aufeinander reflektiert werden. Die Geschichte der Schrift und die Geschichte des Weges, des Durchbruchs, der via rupta, des durchbrochenen, gebahnten Weges, fracta, des von der Öffnung gezeichneten Raums der Reversibilität und Wiederholung, des Abweichens von der Natur und der raumgreifenden Gewalt in der Natur, im natürlichen wilden Wald. Die silva ist wild, die via rupta schreibt sich gewalttätig als Differenz, als auferzwungene Form in die hyle, den Wald, in das Holz als Materie ein; es läßt sich kaum vorstellen, daß der mögliche Zugang zur straßenartigen Trasse nicht gleichzeitig auch ein Zugang zur Schrift ist.“ (Jacques Derrida, Grammatologie. Frankfurt am Main 1974. S. 188f.)
Wir bewegen uns entlang einer Linie, die zugleich Weg, Bahnung, Spur, Trennung, Begrenzung und Grenze ist. Diese Linie ist mit der Geschichte der Menschheit, des Begriffs/des Bildes/des Ideals vom Menschen im Allgemeinen, mit dem Kulturbegriff und der Geschichte der Gewalt verwoben. Gewalt heißt hier das grundsätzliche menschliche Unterfangen, sich gewaltsam in die Welt (semiologisch) einzuschreiben, eine Spur zu hinterlassen, einen Weg (durch die Wildnis) zu bahnen, Zeichen zu setzen. Ob es sich dabei um eine Pyramide, eine Grabinschrift, eine Höhlenmalerei oder einen ausgesprochenen Gedanken handelt, ist unerheblich, sobald der erste Schritt getan wurde – der Gebrauch von Zeichen/Werkzeugen, gleichbedeutend mit dem Kulturbegriff.
Im Gegensatz zum Kulturbegriff im Sinne einer dialektischen Antithese steht die Natur. Aber sie steht nicht alleine da, unbeobachtet und unreflektiert, wild und rau, sondern wird als solche immer schon aus der Perspektive der Kultur betrachtet. Im Laufe der Geschichte hat der Mensch gelernt, sich mit der Natur, die für ihn gleichermaßen Bedrohung wie Lebensgrundlage bedeutete, zu arrangieren. Im Animismus, im Totemismus und in polytheistischen Religionen spiegelt(e) sich das spirituelle und symbiotische Verhältnis von Mensch und Natur wider. Erst über den Platonismus und in weiterer Folge und zugespitzter Form durch das Christentum, allem voran durch die katholische Kirche, transformierte das Verhältnis von Mensch zu Natur zu einem Gegensatz. Die Natur (vor allem im Menschen) wurde zu einem Feindbild, das es zu bekämpfen und bezwingen galt. Die Entkoppelung des Menschen aus der Natur, aus der Vergänglichkeit durch seine Bindung an das Göttliche erhob den Menschen über alle Lebewesen, die Natur als leidige Bindung an das Irdische wurde untertan gemacht. Diese Zäsur, die vorwiegend im Inneren des Menschen als Verdrängung und Aufschub der natürlichen Bedürfnisse zu Gunsten der Verbindung mit den höchsten göttlichen Sphären stattfand, war eng an den Fortschritt und die Ökonomisierung jeglicher Bereiche gekoppelt. Das Erhabene des Menschen ist die Trennung vom Animalischen. Die Krone der Schöpfung darf Leben gewähren oder zerstören, solange es den eigenen Fortbestand sichert. Dabei vergessen wir nur all zu oft, dass wir jedwede Form von Leben um uns herum benötigen, um unser Über-Leben als Menschen zu gewährleisten. Der Kampf gegen die Natur ist vorwiegend ein Kampf gegen die menschliche Natur.
Am 13. Februar dieses Jahres fand in Basel eine Volksabstimmung über die Erlangung von Grundrechten für nicht-menschliche Primaten statt. Auch wenn sich 75% der Bevölkerung dagegen aussprachen, wird durch solche Art von Überlegungen ein Exempel statuiert, das wegweisend für eine lebenswürdige Zukunft sein könnte. Nur wenn wir beginnen, andere Lebensformen als ebenbürtig zu betrachten, ihr Leiden wahrzunehmen, ihr Leben respektvoll zu behandeln und nicht (nur) in die Dienste des menschlichen Überlebenswillens zu stellen (sie nicht zu einem reinen Mittel zum Zweck zu machen, wie Kant es formuliert), kann es eine Zukunft für die Menschheit geben. Indem wir Wälder roden, Bodenschätze ausbeuten, Tierversuche machen, Gewässer verschmutzen und für Bewässerungsanlagen dezimieren, unsere gesamte Umwelt instrumentalisieren, entziehen wir uns unsere eigene Lebensgrundlage. Die Natur ist keine Bedrohung für den Menschen mehr. Die Anwesenheit des Menschen in seiner verblendeten Denaturierung stellt eine Bedrohung für unzählige Tier- und Pflanzenarten dar.
Am Anfang war der Weg. Die Bahnung, die via rupta, die Route, der gewaltsame Durchbruch durch die Wildnis bedeutet auch gleichsam die Öffnung des Raumes hin zur unendlichen Potentialität, zur Möglichkeit der Wiederholung, des Wiederkehrens, des Wiedererkennens. Mit der Natur, durch die Natur oder gegen die Natur. Nach dem Weg kamen die Straßen, die Hütten, die Häuser, die Paläste, die Hotels, die Einkaufszentren, die Fabriken, die Bahnhöfe, die Flughäfen, die Firmengelände, die Wohnanlagen, die Kraftwerke, die Hoch- und Tiefgaragen. Mit dem Bedarf nach mehr und mehr menschlichen Lebensräumen verringern wir die natürlichen Lebensräume. Die silva ist wild und deshalb muss sie langsam verschwinden. Palmölplantagen, Holzwirtschaft, und Waldbrände aufgrund von Trockenheit und Erderwärmung, verursacht durch die Kohlendioxidemissionen aus fossilen Brennstoffen, dezimieren die (Regen-) Wälder, die wir für den Feuchtigkeitshaushalt, die Umwandlung von Kohlendioxid in Sauerstoff und als Lebensraum für alle möglichen Lebensformen benötigen. Die Luft wird dünn, aber wir vernichten weiterhin Baumbestände für fragwürdige Bauprojekte, anstatt die Natur miteinzubinden. Wir versiegeln Böden, bauen ohne Rücksicht auf natürliche Altbestände hitzige Betonlandschaften, roden Auen für Kraftwerke. Alles in den Diensten der Menschheit. Wir benötigen mehr Lebensmittel, mehr Lebensraum, mehr Ressourcen, weil wir uns so rasant vermehren, während der Rest der Welt im Verschwinden begriffen ist. Es ist ein Paradoxon und kann sich so für uns als Menschheit nicht ausgehen. Wir haben nichts begriffen. Massentierhaltung, Retortengemüse, Retortenbabys, Retortenmenschen mit Retortenhirnen in Retortenstädten. Betonflächen mit Topfpflanzen, dazwischen ein paar Jungbäume. Optimierte Flächennutzungen bis an den Rand der Zumutbarkeit. Unser Umgang mit der Natur ist letztendlich auch der Umgang mit der Natur in uns selbst. Der Katholizismus treibt weiterhin sein Unwesen, die Natur wird weiterhin bekämpft. Die unaufhaltsame Verdichtung der Welt und der Rückgang natürlicher Lebensräume für einschließlich alle Lebensformen wird zukünftig vermehrt für Naturkatastrophen und die pandemische Ausbreitung von Krankheiten sorgen. Die Pandemie hat ebenso gezeigt, dass wir etwas wie ein Virus als Äüßerliches, Feindliches betrachten, der wilden, unberechenbaren Natur inhärent, das bekämpft werden muss, und nicht als ein Zeichen, einen Hinweis darauf, dass die Symbiose aller Lebensformen aus dem Gleichgewicht geraten ist und wir uns schleunigst einen neuen Weg durch das Dickicht der Erkenntnisse bahnen sollten. Wenn die Menschen verschwinden, kommt der Wald zurück.
„Die Teilung des Lebens in vegetatives und relationales, organisches und animalisches, animalisches und humanes Leben durchzieht also wie eine bewegliche Grenze vornehmlich das Innere des Menschen, und ohne diese innerste Zäsur wäre die Entscheidung darüber, was menschlich und was nicht menschlich ist, wahrscheinlich nicht möglich. […] Was ist der Mensch, wenn er stets der Ort – und zugleich das Ergebnis – von unablässigen Teilungen und Zäsuren ist? Diese Teilungen zu untersuchen, sich zu fragen, auf welche Weise der Mensch – im Menschen – vom Nichtmenschen und das Animalische vom Humanen abgetrennt worden ist, drängt mehr, als zu den großen Fragen, den sogenannten menschlichen Werten und Menschenrechten Stellung zu beziehen. Und womöglich hängt auch die lichtvollste Sphäre der Beziehungen mit dem Göttlichen in irgendeiner Weise von jener Sphäre – der dunkelsten – ab, die uns vom Tier trennt.“ (Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt am Main 2003. S. 26.)