23/11/2021

zeitenweise – 13

Ein Schub im Politischen III:
Die Welle der Verkehrung

Von der vierten Corona-Welle werden wir wieder in den Lockdown mitgerissen und am Grund offenbart sich ein ideologischer Graben, der kaum noch überbrückbar scheint. Während ein (Groß-) Teil der Bevölkerung alles unternommen hat, um diese Krise zu überwinden, pocht der andere Teil im Namen von Demokratie und Freiheit auf die Wahrung seiner Interessen.

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Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

23/11/2021

Kuschelmonster

©: Severin Hirsch

Ein Schub im Politischen III: Die Welle der Verkehrung

Es ist also wieder soweit, die vierte Corona-Welle rollt in voller Vehemenz über uns und wir gehen wieder in die soziale Isolation. Der Lockdown als politische Notbremse und –lösung soll diesmal nur von kurzer Dauer sein, aber ob sich die Tore (des Handels und der Gastronomie) tatsächlich noch vor Weihnachten für uns öffnen, ist mehr als fraglich. Auch im letzten Jahr war das der Plan, letztendlich verzögerte sich dieser aber um ein halbes Jahr und der 19. Mai 2021 wurde schließlich zum „Tag der Freiheit“ für uns alle. Die Prokrastination – um diesen Ausdruck zu beanspruchen – hat somit auch im Politischen Einzug erhalten und wird spätestens seit der Flüchtlingskrise zu einer politischen Direktive, die zum Ausdruck der eigenen Handlungsunfähigkeit, des fehleingeschätzten Kalküls und des politischen Versagens wird. Der rasante Anstieg an Neuinfektionen Ende Oktober hätte bereits zu einer politischen Entscheidung aufrufen müssen, um die Welle einzudämmen und die Wirtschaft vor dem neuerlichen Ausbleiben des Vorweihnachtsgeschäfts mitsamt allen damit verbundenen Vorbereitungen zu bewahren. Stattdessen wurde versprochen, uns vor einem weiteren Lockdown zu verschonen, was uns am Ende ans Ende einer Sackgasse geführt hat. Die Überraschung bleibt aus, die Entwicklung war vorhersehbar (wie auch seinerzeit in der Flüchtlingskrise), dennoch hat man das Gefühl, dass die Ereignisse plötzlich und völlig unverhofft wie Josef und Maria vor der Türe stehen und wir keine Zeit hatten, uns darauf vorzubereiten. Man könnte meinen, nach über eineinhalb Jahren der Pandemie hätte sich so etwas wie eine Routine im politischen Umgang eingestellt, wie auch wir uns routinemäßig darauf eingestellt haben, wenn und wo immer es erforderlich ist, Masken anzulegen, Abstand zu wahren, uns regelmäßig zu testen oder eben zu Hause zu bleiben.
Das Problem einer politischen Entscheidungsfindung liegt vermutlich in dem sehr differenzierten gesellschaftlichen (und politischen) Umgang mit der Pandemie. Einem (großen) Teil der Bevölkerung steht bereits die dritte Impftermin bevor, während sich der andere Teil immer noch vor einer Impfung sträubt bzw. das Thema der Coronapandemie schlicht und einfach wegleugnet. Bestärkt durch Parteiideologien, die in diesem Zwiespalt ein Angelbecken zum Fischen von Wählerstimmen sehen, wird so die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben und der aufgerissene Graben immer schwieriger zu überwinden. Die vierte Welle wird daher vielerorts als eine politische angesehen und die Fronten der verschiedenen Lager scheinen sich zu verhärten. Nachdem keine einheitliche politische Strategie im Umgang mit Corona betrieben wurde, werden nun neue rechtliche Schritte gesetzt werden müssen, um den ungeimpften Teil der Bevölkerung von einer Impfung zu „überzeugen“ – zwar ohne physische Gewalt, aber mit ökonomischen Druckmitteln. Die drastische Maßnahme einer Impfpflicht, die zum Schutz der Öffentlichkeit in keinem scheinbaren Widerspruch zur Verfassung steht, kommt allerdings spät. Die täglichen Statistiken von Neuinfektionen haben nicht die gewünschte Angst geschürt, Menschen zu einer Impfung zu bewegen. Jetzt stehen wir da, alleine, alleingelassen, auf der einen Seite die Menschen, die alles getan haben, um die Pandemie im Zaum zu halten, die wegen des neuerlichen Lockdowns nun Groll gegen die Verweigerer hegen, auf der anderen Seite die Verunsicherten und Leugnenden, die sich in ihrer Entscheidungsfreiheit beraubt sehen und auf Anti-Corona-Demonstrationen mit Slogans wie „Friede, Freiheit, Demokratie“ gegen die Regierungsbeschlüsse scharf machen.
In diesen Tagen wird viel von der „Freiheit“ gesprochen, jede/r nimmt sie für sich in Anspruch und will sie verteidigen, ohne dabei ein Bewusstsein zu haben, was der Freiheitsbegriff inkludiert. Zunächst – und das ist schon das vordergründige Problem – gibt es die individuelle Freiheit, die niemals uneingeschränkt sein kann, solange wir in eine Gemeinschaft eingebunden sind. Andererseits kann, wie schon der Verfechter des Anarchismus und größte Marx-Kritiker Michail Bakunin anmerkte, ein isolierter Mensch niemals die Freiheit erlangen. Aus diesem Grunde sind Menschen, die aus purem Egoismus und ohne Rücksicht auf andere nur ihre eigenen Interessen vertreten, schon im Vorhinein unfrei. Die individuelle Freiheit kann nur innerhalb einer freien Gesellschaft gedacht werden und bedeutet frei von äußeren Zwängen (negative Freiheit) und frei durch seine Rechte (positive Freiheit) agieren zu können, nicht jedoch unter der Einschränkung der Freiheiten von anderen. Als Handlungsmaxime ohne staatliche Autorität gilt, wie von Kant in der Metaphysik der Sitten dargelegt, für jede/n Einzelnen eine Verbindlichkeit und Verpflichtung gegenüber einer freien Gesellschaft. „Also ist das allgemeine Rechtsgesetz: handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne […].“ (Immanuel Kant, Werke in zwölf Bänden. Band 8. Frankfurt am Main 1977. S. 337.)
Da aber weder Bakunins Anarchismus einer selbstorganisierten, autoritätsfreien Gesellschaft, noch die Kant’schen Maximen für ein Zusammenleben ausreichend erscheinen, bedarf es der übergeordneten Autorität von Staats- und Rechtssystems, um dieses zu gewährleisten und in extremen Fällen gesetzlich einzuwirken. „Dies Prinzip lautet: daß der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Daß der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten. Das eigene Wohl, sei es das physische oder das moralische, ist keine genügende Rechtfertigung.“ (John Stuart Mill, Über die Freiheit. Stuttgart 1988. S. 16.)
Der (All-)Gemeinwille (der volonté générale bei Rousseau) hat über dem individuellen Willen zu stehen, im gleichen Sinne wie auch die allgemeine Freiheit der individuellen übergeordnet sein muss, da ansonsten mit staatlichen Sanktionen gerechnet werden kann, wenn die Gesundheit oder Überlebensfähigkeit der ganzen Gemeinschaft auf dem Spiel steht. Politische Mehrheitsentscheidungen (wie Wahlen) zu akzeptieren und das Wohl der Gemeinschaft vor die eigenen Interessen zu stellen und zu wahren, sind die Grundpfeiler der Demokratie. Dies scheinen all jene zu vergessen, die nun im Namen von Demokratie und Freiheit just auf diesen herumtreten, um ihre individuellen Bedürfnisse durchzusetzen, ihre eigenen Auffassungen zu schützen und jene, die sich für das Wohl der Gemeinschaft stark machen und Schritte fürs Gemeinwohl setzen, als antidemokratisch und antilibertär bezeichnen.
Demokratie und Freiheit sind keine natürlichen Gegebenheiten, sondern Errungenschaften, um die jeden Tag gekämpft werden muss, sie sind keine ideologischen Absolutheiten, sondern entstehen durch Konsens. „Die Ideologie versucht Kultur in Natur zu verkehren, und das ,natürliche’ Zeichen ist eine ihrer Waffen. Vor einer Flagge zu salutieren oder mit der Ansicht übereinzustimmen, dass die westliche Demokratie die wahre Bedeutung des Wortes ,Freiheit’ repräsentiert, wird zur selbstverständlichsten, spontansten Reaktion der Welt. In diesem Sinne ist Ideologie eine Art moderner Mythologie, ein Bereich, der sich von Zweideutigkeit und alternativen Möglichkeiten gereinigt hat.“ (Terry Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie. Stuttgart, Weimar 1994. S. 120.)

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