02/11/2021

Aber Hallo! 86

Die wa(h)re Landschaft

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Jeden ersten Dienstag im Monat veröffentlicht GAT in der Kolumne Aber Hallo! Anmerkungen von Karin Tschavgova zu aktuellen Themen von Architektur und gebauter Umwelt.

02/11/2021
©: Karin Tschavgova

Es war auf dem Weg nach Berlin, als ich kürzlich in Thüringen durch eine Landschaft fuhr, die mir, obwohl allein im Auto sitzend, ein lautes „Oh Gott, ist das potthässlich“ entlockte. Vor mir erstreckte sich, links und rechts der Ränder der Autobahn, flaches, siedlungsfreies Land, das vollgestellt war mit Windrädern. Gleich nach diesem ersten Impuls, eigentlich im selben Augenblick, erinnerte ich mich an die Klagen unserer Freunde, die die ländlich-alpine Idylle ihres Ferienhauses auf der Alm bei Kraubath gefährdet sahen durch Windräder, die man vor ein paar Jahren dort hoch oben installierte. Natürlich sei man für alternative Energiegewinnung, um die fossile ersetzen zu können, aber: Ach, die schöne unberührte Landschaft! „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ dachte ich mir damals im Stillen – ich erinnere mich genau – und so war es auch jetzt.
Wollen wir auch nur annähernd das Pariser Klimaziel erreichen, so müssen wir das große vorhandene Potenzial für regenerative Energieversorgung schleunigst einsetzen und ausbauen. Und dazu gehört eben neben Wasserkraft auch Windkraft, Offshore-Windenergie, Photovoltaik und Geothermie.
Das alles prägt Landschaften, wird Raum verändern und ein neues Bild schaffen. Eine Forschungsgruppe des Instituts für Umweltplanung der Universität Hannover hat sich fünf Jahre lang mit der Frage beschäftigt, auf welchen Flächen in Deutschland es mit möglichst wenigen Konflikten verbunden wäre, wenn man dort große Windkraftanlagen aufstellt. Die Wissenschaftler*innen nennen diese Gebiete „Flächen mit geringem Raumwiderstand“. Die wichtigsten Punkte dabei: Möglichst keine Störung für Natur und Biodiversität (nicht in Naturschutzgebieten oder Nationalparks), möglichst keine akustische Störung für Menschen (gesetzlich vorgeschriebene Abstände zu Siedlungen) und möglichst keine optische Störung (z.B. in Naherholungsgebieten). All diese Störungsarten ergeben zusammen den Begriff „Raumwiderstand“. Diese Terminologie fand ich äußerst interessant.
1985 erschien unter der Herausgabe von Friedrich Achleitner im Residenz Verlag ein Buch mit dem Titel Die Ware Landschaft. Theoretiker wie Lucius Burckhardt, Soziologen, Geographen, mehrere Architekten, zum Beispiel Dietmar Steiner, aber auch der Schriftsteller Reinhard Priessnitz und der Zeichner Max Peintner unterzogen den Begriff der Landschaft einer kritischen Analyse.
Achleitner wollte keinesfalls einen neuen Kulturpessimismus verbreiten, das Buch sollte dazu anregen, unseren Lebensraum und was in ihm vorgeht, bewusster und kritischer zu sehen. Naturgemäß lag der Fokus damals auf der Gefahr der Zerstörung der Landschaft durch Tourismus und dem damit einhergehenden Ausverkauf des Landes. Ein Beitrag thematisierte „Die Veränderung der Landschaft durch Wirtschaft, Technik und Politik“ und meinte damit die Entwicklung einer technisierten industriellen Landwirtschaft und die daraus entstehenden negativen Veränderungen der Landschaft – quasi als notwendiges Opfer für den Wohlstand aller. „Heute ist Landschaft entweder bloßes Produktionsmittel oder bloße Ware. Sie muss sich verwerten und in Kapital verwandeln“ schreiben die Autoren Josef Klammer und Günter Scheer 1985 und folgern daraus richtig, dass „die Zerstörung einer Landschaft häufig eine Folge davon ist, dass die Bedürfnisse vieler Menschen weniger Gewicht haben als die Interessen einiger“.
Wird unsere Landschaft heute, 2021, auf sorgfältig ausgewählten „Flächen mit geringem Raumwiderstand“ durch die Technik von Windkraftanlagen verändert, so ist dies wohl als notwendiges Opfer für das Überleben aller zu bewerten. Wasch mir den Pelz, lass mich (Umweltbewusste) bequem und mit ruhigem Gewissen regenerative Energien in rauen Mengen konsumieren, die aber bitte nicht in meiner Umgebung gewonnen werden dürfen, mein Blickfeld nicht stören sollen, das geht halt gar nicht.
Diese Autofahrt nach Berlin, ein Transport von Hausrat für meinen Sohn, war meine letzte Fahrt auf der Straße, auch, weil es mehr als unlustig ist, auf überfüllten Autobahnen mit zu vielen Baustellen und Stau durch die Gegend zu fahren. Gedanken nachzuhängen, nachzudenken, was eine „heile Landschaft“ ist, wird auch im Zug möglich sein. Schade, dass der großartige Bruce Springsteen, seine Stimme und seine Lyrics, die so oft von einsamen Fahrten auf nächtlichen Highways erzählen, dort nicht ihre grandiose Wirkung entfalten werden. Tipps für Musik im Zug – gern! Nur Freight train bitte nicht, denn das ist zu traurig, selbst zu Allerheiligen.

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