Veränderungen der Gegenwartswelt
Jeder Mensch erlebt seine Umwelt auf unterschiedliche Art und Weise, interpretiert Sachverhalte und Verhaltensweisen seiner Mitmenschen anders und besitzt ein individuelles Aufnahmevermögen, das diesen Menschen prägt und das er ebenso auf seine Umwelt reflektiert. „Die Kraft der Landstraße ist eine andere, ob einer sie geht oder im Aeroplan darüber hinfliegt. So ist auch die Kraft eines Textes eine andere, ob einer ihn liest oder abschreibt. Nur wer die Straße geht, erfährt von ihrer Herrschaft (…)“, schreibt Walter Benjamin in Einbahnstraße (1928) und spricht sich damit dafür aus, selbst in den Ort seiner Erzählung zu treten, um die Gegebenheiten und Gefühle reflektieren zu können, die dort erlebt werden – zu flanieren also. Dabei wurde der Flaneur traditionell als männliches Wesen beschrieben, da die Frau des 19. Jahrhunderts im literarisch-künstlerischen Bereich nicht anerkannt war. Den Einzug in die Literatur fand das Phänomen durch Edgar Allan Poes Erzählung The man of the crowd (1838), in der die Stadt zur lesbaren Landschaft wurde und in dessen Mittelpunkt Eindrücke stehen sollten, „um die Augen für die Veränderungen der Gegenwartswelt zu öffnen“(1). Für manche schien die voranschreitende Modernität in den Großstädten (vor allem außerhalb der Heimatstadt Paris) fast unerträglich zu sein, wie Louis Aragon schon 1922 über Berlin schreibt: „Unterdessen wird in Berlin – fünf Minuten Aufenthalt – zur modernsten Stadt Europas: mitten aus den Kartoffeläckern (ÄCKERN!) sprießen die Stadtviertel auf. Die Reklame, das ist die Hauptsache (…). Die Leuchtreklame am Potsdamer Platz, drahtlose Ferngespräche in der Stadt schon in wenigen Tagen, der Luxus der Stadtviertel im Westen (…).“(2)
Auf der Suche nach
Das Konzept des Flaneurs im 20. Jahrhundert wurde aber wesentlich von Benjamin am Beispiel des Pariser Boulevard-Lebens eingeführt. Die Begrifflichkeit nahm er von Charles Baudelaire, durch den die Verschmelzung von Künstler und Flaneur in der Gestalt des „Malers des modernen Lebens“ kanonisch geworden ist. Benjamin befasst sich in Das Passagen-Werk (1940) auch mit Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913) und erkennt darin eine Entwicklung weg vom romantischen Landschaftsgefühl hin zu einem neuen Gefühl einer romantischen „Stadtschaft“: „So nun, völlig außerhalb von jeder literarischen Absicht und ohne einen Gedanken daran, fühlte ich manchmal meine Aufmerksamkeit plötzlich gefangen von einem Dach, einem Sonnenreflex auf einem Stein, dem Geruch eines Weges, und zwar gewährten sie mir dabei ein spezielles Vergnügen, das wohl daher kam, daß sie aussahen, als hielten sie hinter dem, was ich sah, noch anderes verborgen, das sie mich zu suchen aufforderten und das ich trotz aller Bemühungen nicht zu entdecken vermochte.“(3)
was ist, war und wird
Dass all das (auch) mit Graz zu tun und an Aktualität wenig eingebüßt hat, zeigt sich anhand des kunstraum_8020, den Eva Brede zusammen mit Alia Bandhauer im Mai 2020 als Kunstverein gegründet hat. Seit 2018 bespielt dieser neben zwei festen Standorten in 8020 Graz, wovon nun der bisherige Ausstellungsort im Grazer Bezirk Gries aufgegeben wird, immer andere Orte und arbeitet explizit mit der Idee von Räumlichkeit und dem ständigen Dazwischensein, zwischen Wohnen und Arbeiten. Am Freitag, 30.7.2021 war Brede zu Gast im Club Hybrid – einem Demonstrativbau in Graz. Heidi Pretterhofer (Idee und Konzeption Club Hybrid gemeinsam mit Michael Rieper) führte das Gespräch unter dem Titel was ist, war und wird der kunstraum_8020, der seit 2018 Formate zu Walter Benjamin (1892-1940) im Stadtraum macht?.
Die Veranstaltung thematisierte Geschichte, Aktualität und Zukunft des Projekts, das Walter Benjamin zum Gegenstand hat. Weiterbestehen und Entwicklung sind nicht nur für den kunstraum_8020 wesentlich, auch der Austragungsort der Veranstaltung ist angehalten, sich nach Ende des Graz Kulturjahres 2020, aus dem dieser hervorgegangen ist, (wieder) neu zu (er)finden.
Der kunstraum_8020 verortet sich trotz des bevorstehenden Umzugs von Brede nach Berlin, der einen Perspektivwechsel mit sich bringen wird, nach wie vor in 8020 Graz. Seine Formate (u.a. Lesekreise, Ausstellungen und Interventionen auf einer elektrischen Laufschrift) setzen sich immer wieder neu an Orten und Nicht-Orten im urbanen und virtuellen Raum im Austausch mit anderen zu Benjamin zusammen. Auch wenn dieser nie in Graz war, lässt sich sein Werk und Denken gerade auf der 8020-Seite von Graz spiegeln. „Die rote elektrische Laufschrift“, über die Benjamin in seinem Buch Einbahnstraße bereits 1928 geschrieben hatte, ist insbesondere in 8020 ein visuelles Merkmal, das im Zuge der Gentrifizierung mehr und mehr verschwindet und das Brede als Künstlerin hervorhebt. Indem sie auf einer tragbaren Laufschrift Textfragmente Benjamins mit Bezug auf Ereignisse in seiner Biografie programmiert und in Form ihrer Interventionen an verschiedenen Orten „aufblitzen“ lässt, bringt sie Benjamins Inhalte, die nicht nur wissenschaftlich waren, sondern sich auch mit dem Alltag in Städten befassen, in einen außerakademischen Kontext und übersetzt sie ins Heute. „Im Gegensatz zu konventionellen Galerieräumen war der kunstraum_8020 von Beginn an nicht auf einen festen Ort mit regulären Öffnungszeiten festgelegt, sondern als Projekt, das mit Zeit und Raum-Ressourcen in verschiedenen Situationen an Orten und Nicht-Orten experimentiert, über die Benjamin u.a. in seinen Denk- oder Städtebildern geschrieben hatte.“, erklärt Brede. „Ziel ist, war und wird sein, die Inhalte und die Geschichte Benjamins an Orte von Alltagskultur zu bringen, um Kunst in nicht (nur) klassischen Kontexten der Hochkultur stattfinden zu lassen sowie Diskussionen anzuregen, die Benjamins Werk lebendig halten.“
Das kuratorische Konzept der kunstraum_8020-Haupt-Formate, wie der Ausstellungen, verpflichtet sich dem Anspruch, jeweils eine Stadt, die mit Benjamins Biografie zu tun hat, zu thematisieren und diese mit Graz zu verknüpfen. „Damit sollen Benjamins Themen in Graz verortet und Bezüge hergestellt werden, da diese auch hier Gültigkeit haben, wie die Rolle der Fotografie beispielsweise.“ Den ersten Lesekreis dazu organisierte Brede schon im November 2018, lange vor der Gründung ihres Vereins, in der Ateliergemeinschaft printi, die sie auch weiterhin dafür nutzen wird. Darauf folgten bisher 15 weitere. Mit Kooperationspartner*innen aus und in 8020 (z.B. der Camera Austria und Granatapfel Kulturvermittlung) werden im Rahmen der seit 2019 bestehenden und fortlaufenden Lesekreis-Reihe BENJAMIN & FRIENDS ausgewählte Themen Benjamins anhand seiner Freundschaften in 8020 beleuchtet, und bald auch auf Frankfurt am Main, Berlin und Wien ausgedehnt...
Idlhofgasse 74 in 8020 Graz, an der Mauer neben dem gelben Haus mit der Hausnummer 78
Die 1. Ausstellung des kunstraum_8020 mit dem Titel Fernbusse ganz nah. Im Gepäck: Frankfurt/Main, Berlin, Graz und Wien (7.8.-10.9.2019) kuratierte Brede gemeinsam mit Katharina Sieghartsleitner. „Diese Fotoausstellung zeigte Bildmotive, die ich auf Reisen zwischen Städten, die für den kunstraum_8020 in Bezug zu Benjamin wichtig sind, aufgenommen habe. Sie bezog sich ursprünglich auf Benjamins posthum publiziertes Buch ‚Berliner Kindheit um 1900‘(4), dessen Texte er auf Reisen 1932, kurz bevor er ins französische Exil emigrierte, verfasst hatte sowie auf die Frage, wann und wo Reisen zu Migration wird. Sie nahm Bezug auf einen direkt unter der Wohnung liegenden Busparkplatz.“ Dafür und für alle weiteren Ausstellungen wurde Bredes Wohnung zum Ausstellungsraum umfunktioniert, da, laut einem Tagebuch-Eintrag von 1931, auf den Brede bei ihren Recherchen zu Benjamin gestoßen war, „Benjamins Lieblingsgegenstand das Wohnen war“. Im Rahmen dieser Ausstellung, bei der sie nicht nur als Co-Kuratorin, sondern auch als Künstlerin auftrat, wurde das Narrativ ihres initiierten kunstraum_8020, der Graz insbesondere mit den Städten Frankfurt/Main, Berlin und Wien und Walter Benjamin mit 8020 Graz verknüpft, vorgestellt.
Die 2. Ausstellung Displace | Display (13.-15.9.2019) war dem Künstler Dan Robert Lahiani gewidmet, der von Paris (Benjamins Lieblingsstadt) nach Israel gezogen ist. Lahiani fand während seiner AiR-Aufenthalts in Graz im Sommer 2019 für seine dort neu entstandenen Fotografien beim Passieren einer ihm unbekannten Stadt vor allem die 8020-Seite inspirierend.
Erstmals im Parallelprogramm des steirischen herbst lief die 3. Ausstellung ALIENATION. Who Finishes First? Sculptur un billet de 100 euros, die eine bereits vorhandene Arbeit der Pariser Künstlerin Qingmei YAO (21.-29.9.2019), die zuvor im Palais du Tokyo ausgestellt worden war, in der Wohnung sowie am Abend des Grieskram-Stadtteilfestivals und am Tag des Rundgangs zum Parallelprogramm im Foyer des Gürtelturms neu präsentierte.
„Als ein mit Zeit-Raum-Ressourcen experimentierendes Projekt setzt sich der kunstraum_8020 in immer neuen Formationen – auch seine Orthografie betreffend – an Orten und Nicht-Orten im urbanen Raum zusammen“, erzählt Brede. „Inspiriert vom Stadtmenschen Benjamin und seinen Schriften, arbeitet der kunstraum_8020 an der Schnittstelle von Pop- und Konsumkultur sowie von Migration und Tourismus im Zeitalter ständiger Erreichbarkeit. Paris, die von Benjamin benannte ‚Hauptstadt des 19. Jahrhunderts’, ist der Schauplatz von Qingmei YAOs Arbeit ‚Sculptur un billet de 100 euros‘. Diese besteht aus vier Videos und zeigt die Künstlerin auf offener Straße mit einem 100-Euro-Schein, den sie anschließend in einer Auktion als Kunstobjekt versteigern ließ.“ (siehe Guidebook steirischer herbst '19)
Mit WOHNEN BEI BENJAMIN UND BRECHT. Mitbewohner*in auf Zeit gesucht, ab 1.11.2020, in Altbauwohnung um 1900, teilmöbliert (27.9.-18.10.2020) war die 4. Ausstellung betitelt, die erneut im Parallelprogramm des steirischen herbst kontextualisiert wurde und in der zwei künstlerische Positionen aus Berlin auf eine aus Graz trafen. Fotografische sowie raumfüllende Installationen der Berliner Künstler*innen Bettina Allamoda und Minh Duc Pham wurden zusammen mit einem begehbaren Boden von Markus Wilfling präsentiert. Für diese Ausstellung wurde die ganze Wohnung sowie der öffentliche Raum genutzt. „Kurz nachdem Benjamin über Brechts episches Theater geschrieben hatte, entwickelten sie gemeinsam eine ‚Typologie des Wohnens‘. Diese bildete den Ausgangspunkt, um das Projekt über den konventionellen Kunstkontext hinaus auch in jenen von Onlinebörsen zu übersetzen. Die Wohnungsbesichtigungen, die an sechs Tagen zu je sechs 25-minütigen Slots in Anwesenheit Bredes und der Künstler*innen stattfanden, waren zugleich Ausstellung, deren bevorzugtes Medium an den Schnittstellen von Skulptur und sozialer Plastik angesiedelt war.“
Benjamins Lieblingsgegenstand: Wohnen
Nicht nur aufgrund des bevorstehenden Umzugs Bredes endet der Ausstellungsbetrieb in ihrer Wohnung im Bezirk Gries. Nachdem vor allem in Form der letzten Ausstellung Benjamins Lieblingsgegenstand, dem „Wohnen“, in Bredes Wohnung nachgegangen worden ist, wird von nun an der öffentliche Raum und dessen Nicht-Orte noch stärker als bisher in den Blick genommen. Die Idee von Konstellationen und Kooperationen wird in Form der Lesekreis-Reihe BENJAMIN & FRIENDS hier und in Städten, in denen Benjamin tatsächlich lebte, beibehalten. Eine Ausstellung im Jahr in Kombination mit anderen Formaten soll weiterhin in Graz umgesetzt werden und damit der Gründungsgedanke fortgesetzt.
Grie´Soss in Gries – sich woanders hinverpflanzen
Der Themenschwerpunkt des kunstraum_8020 liegt 2021 auf der Stadt Frankfurt am Main, wie auch in dem Format Grie´Soss in Gries, wurde im Club Hybrid in Form von gemeinsamem Kochen der Frankfurter „Grünen Sosse“ und dem 16. Lesekreis, der die Freundschaft Benjamins und Adorno zum Gegenstand hatte, erfahrbar. Weiters wurden im Rahmen dieser Veranstaltung Editionen vornehmlich aus der 1. Ausstellung präsentiert, die Bredes Interesse an Übergängen und dem Prekären an Standortbestimmungen zeigen: „Warum geht man woanders hin, mit welcher Erwartung? Was bedeutet ‚Stadt‘? Migration? Wann ist Reisen Migration, wann ein Übergang ein dauerhafter Zustand? Was nimmt man mit, aus anderen Städten oder anderen Orten, und wie kann man diese Dinge im jeweils subjektiven Gepäck an neue Orte bringen und daraus etwas Neues entstehen lassen? Was bedeutet es prekär zu leben? Wie lassen sich eigene Privilegien für andere einsetzen und inwiefern spielt Solidarität in Bezug auf Benjamins überliefertes Werk eine Rolle? Welche Spielräume bietet der Kapitalismus? An welche Orte (Ideen) erinnert man sich an anderen (neuen) Orten?“ Auch Themen rund um Ausgrenzung und gesellschaftliche Strukturen wurden im Club Hybrid an- und sich für Differenzierung, Diversität und die Auseinandersetzung mit immer stärker aufkommenden Antisemitismen ausgesprochen. Brede bleibt aktiv und damit der kunstraum_8020. In Berlin wohnen, in der Ateliergemeinschaft printi in Graz weiterhin arbeiten und dazwischen, auf Reisen, Inspirationen für wieder neue Formate in 8020 und darüber hinaus sammeln.
(1) Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Erster Band, 1983 (1940)
(2) Zit. n. Littérature. Nr. 6 (1. November 1922), S. 22, in: Wolfgang Asholt/Claude Leroy, Die Blicke der Anderen, Band 2, 2006
(3) Rolf Tiedemann (Hg.), Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Band 5, 1991
(4) siehe https://www.projekt-gutenberg.org/benjamin/berlkind/chap01.html
Co-Autorin: Eva Brede