Die Bekenntnisse zur Unverzichtbarkeit der Kunst und zur Unerträglichkeit ihrer Abwesenheit klangen während der Pandemie so vollmundig wie unglaubwürdig. Echt genervt vom Lockdown waren Galeristen und Veranstalter, die auf ihre Legitimierung und Selbstdarstellung durch Vernissagen verzichten mussten. Und natürlich auch ihre üblichen Besucher, deren gesellschaftliche Zusammenkünfte mitsamt künstlerisch verbrämten Small Talks und Drinks ausfielen. Aber ansonsten, ganz ehrlich, wurde man schon vor Corona in diesen Galerien von einer Leere angegähnt. Dann während des Lockdowns sowieso und nun, in Zeiten von Postcorona bzw. vor der vierten Welle, ist es nicht anders.
Bei den Kinos eine vergleichbare Scheinheiligkeit, die sich gut an der Diagonale, der Leistungsschau des Österreichischen Films, beobachten lässt: Während der Diagonale – ein Ansturm von Leuten, die ansonsten monatelang nicht ins Kino gehen, lange Schlangen vor Filmen, die sie normalerweise nicht einmal ignorieren. Folgerichtig herrscht auch jetzt, nachdem man endlich! endlich! wieder darf, in den Kinosälen die altbekannte, die wohlgekühlte, gähnende Leere. Ausgenommen sind die Blockbuster, aber das ist eine andere Geschichte.
Dabei wartet eine ungeheure Menge von Filmen auf das Publikum, nämlich alle Produktionen vor Corona, die dann nicht gestartet werden konnten, plus die seither realisierten. Und das bei einer Branche, deren Ausstoß während der letzten Jahre epidemisch geworden ist. Die Lichtspieltheater sind vom Flaschenhals zum Nadelöhr mutiert, für jeden eingesetzten Film warten X andere darauf, gespielt zu werden. Leider geht – um den biblischen Jargon zu strapazieren – eher ein kamelmäßiger Film durch dieses Nadelöhr, als ein origineller, womöglich schwieriger Film.
Kinobetreiber schauen auf den Umsatz, „geht ein Film schlecht“ wird er abgesetzt. Die Spieldauer eines Films verhält sich also verkehrt proportional zu seiner Qualität, je ungewöhnlicher er ist, desto schneller verschwindet er wieder aus dem Kino. Einen solchen Film gilt es sofort anzusehen. Wenn er nämlich bei zwei Vorstellungen während der ersten Woche nur vor jeweils null bis drei Besuchern läuft, vielleicht noch einmal am Sonntagnachmittag vor leerem Haus, ist er mit einer an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weg. Je mehr Filme also verfügbar sind, je ungewöhnlicher sie daherkommen, desto eher werden sie unsichtbar. Was für ein paradoxes Ergebnis! Beispiele gefällig?
Vitalina Varela, der letzte Film des portugiesischen Kultregisseurs Pedro Costa wird keinem aufgefallen sein. Der Film gewann 2019 beim Festival von Locarno den Goldenen Leoparden und wurde von Sight & Sound auf Platz 10 der 10 besten Filme von 1919 gereiht. Pedro Costa, der seit langem mit Laien von den Cap Verdischen Inseln arbeitet, die in den Elendsvierteln von Lissabon gestrandet sind, erzählt die Geschichte einer Witwe namens Vitalina Varela. Sie kommt drei Tage nach dem Tod ihres Mannes, zwanzig Jahre nachdem sie ihn zuletzt gesehen hat, per Flugzeug in der Hauptstadt an, um ihren Mann zu begraben und vielleicht auch zu beerben. Aber er ist schon unter der Erde und es gibt nichts zu erben. Costa reduziert den Plot auf unendlich verlangsamte Einstellungen, die er in magischen Chiaroscurobildern, über ihre simple Bedeutung hinaus immer mehr verdichtet. Dokumentarische Details weiten sich zu einem Menschheitsepos, soziales Engagement wird zu religiöser Beschwörung. Selbst die Zeit scheint still zu stehen, während die fabelhafte Vitalina Varela die statuenhafte Schönheit einer archaischen Göttin annimmt. Das kann als genial oder hochgestochen angesehen werden, eine faszinierende Schule des Sehens ist es allemal.
Ähnliches gilt für First Cow der US-Regisseurin Kelly Reichardt. Ihr von der Fachwelt hochgelobte Film über einen Koch und seinen chinesischen Freund, die mit gestohlener Milch in der Wälder Oregons Kuchen backen. Nachdem sie bei den leckermäuligen Pelztierjägern einiges Geld machen, werden sie ertappt und kommen schließlich zu Tode. Aber First Cow ist nur scheinbar ein Western: Tatsächlich handelt es sich, dem Motto von William Blake „The bird a nest, the spider a web, man friendship“ folgend, um einen sehr sensiblen, geradezu märchenhaften Film über Freundschaft und einen bitteren Kommentar zum freien Unternehmertum.
Vollends unverständlich ist, dass Dominik Grafs gerade gestarteter Film Fabian oder Der Gang vor die Hunde nach Erich Kästners Roman Fabian ebenfalls vor leeren Häusern läuft. Immerhin Erich Kästner – der müsste doch wenigstens ein paar Mittelschullehrer anziehen. Und Dominik Graf, eine Art deutscher Scorsese, hat mit dem Film sein Opus Magnum, ein Kompendium cineastischer Möglichkeiten und ein halluzinatorisches Porträt der Dreißigerjahre vorgelegt. Ganz abgesehen davon, dass es sich bei seinem Fabian um eine der seltenen Literaturverfilmungen handelt, die nicht ausbeuterisch nacherzählen, sondern filmisch genuin sind.
Diese Reihe, ohne weiteres verlängerbar, soll nur ein Streiflicht auf unsichtbare Filme werfen. In Graz ist die Lage besonders finster, seit mit der Umwandlung des Opernkinos in einen Billamarkt (also der Aufwertung eines niederklassigen Kulturraums zum hochklassigen Wirtschaftsraum) unter der Regie von Landeshauptfrau Klasnic die Chance zu einem echten Programmkino verspielt worden ist. Jetzt geht es darum mehr Geld in die Hand zu nehmen, um wenigstens die bestehende Struktur zu erhalten. Oder noch etwas mehr Geld für eine bessere Lösung locker zu machen. Oder einfach auf Gott und Netflix zu vertrauen.