24/06/2021

Filmpalast – 22

NOMADLAND von Chloe Zhao, USA, 108 min.

mit: Frances McDormand, David Strathairn, Linda May

.

Filmkritik von
Wilhelm Hengstler

24/06/2021

NOMADLAND von Chloe Zhao. Bild: Screenshot Redaktion GAT siehe Link > uncut.at

©: uncut.at

Damit kein Missverständnis aufkommt: Nomadland von Chloe Zhao (sechs Oskars, darunter beste Regie, bestes adaptiertes Drehbuch, bester Film) ist kein schlechter Film, jedenfalls um Längen besser als beispielsweise Damien Chazelles ähnlich hochprämiertes La La Land. Aber warum habe ich mich dann während Nomadland lief, manchmal gefragt „Warum gefällt mir der Film nicht so gut, wie er eigentlich sollte?“ Chloe Zhaos voriges Meisterwerk The Rider hat meine Lebensgewohnheiten verändert. Der Film beginnt damit, dass der Rodeoreiter Brady Blackburn morgens seine Tabletten mit Wasser aus einem Marmeladeglas hinunterspült. Beim Bullenreiten ist der junge Indianer schwer am Kopf verletzt worden. Ich trinke jetzt auch aus Marmeladegläsern, das ist nicht nur praktisch, weil sie kaum umfallen. Es hat auch was dandyhaftes.

Nomadland ist eine Art Heldenepos über Menschen, die in ihren Autos, Vans und Wohnwägen, mit denen sie Billigjobs quer durch die USA hinterherfahren, auch gleich wohnen. „Ich bin nicht obdachlos, ich habe nur kein Haus“ lautet die Selbstdefinition. Mit Nomadland hat Hollywood wieder einmal die Armen, Außenseiter und Verlorenen für sich entdeckt… was für die Betroffenen nicht unbedingt Gutes bedeutet. Man denke nur wie es Indianer jahrzehntelang in seinen Filmen behandelte. Neben dem aktuellen Thema von Nomadland – Verarmung der amerikanischen Arbeiter und des Mittelstandes – wird die Sensibilität hervorgehoben, mit der Chloe Zhao Dokumentarisches und Fiktives vermischt, Laien und Schauspieler nebeneinander spielen lässt.

Fern (Frances McDormand) verlässt ihr Haus nachdem ihr Mann verstorben ist und die „schöpferische Kraft des Kapitalismus“ ihren Wohnort mit dem pompösen Namen Empire in eine Geisterstadt verwandelt hat. Als moderne Nomadin, unterwegs von einem Job zum anderen, lernt sie an ihrem alten Kastenwagen herumzuschrauben oder sich einen hinreichend großen Eimer für die Notdurft in den Wagen zu stellen, und findet dabei Freunde, denen sie später immer wieder begegnet. Man tauscht sich aus und steht einander bei, soweit es die limitierten Ressourcen eben gestatten. In diesem dokumentarischen Teil werden viele sehr, sehr einfache Ratschläge für das Leben unterwegs gegeben, herzliche Umarmungen ausgetauscht und viele Lagerfeuer gezeigt. Zwischendurch lässt Chloe Zhao ihren Star durch Trailerparks streifen und schauspielerisch leicht unterfordert „I see you later“ in den Sonnenuntergang sagen.
Für The Rider hat die US-Chinesin monatelang junge Ogalala-indianer in einem Reservat in South Dakota begleitet, Brady Jandreau, sein spielsüchtiger Vater und die mongolide Schwester spielen, ebenso wie seine Freunde, alle sich selbst. Auch Nomadland wurde an Originalschauplätzen gedreht und einige „echte“ Charaktere aus der gleichnamigen Reportage von Jessica Bruder treten neben den Schauspielern Frances McDormand und David Strathairn auf. Trotzdem sind mir die Bilder von Nomadland meist nur als authentische Illustrationen für die behauptete Authentizität erschienen.
Wenn Frances McDormand durch eine Halle von Amazon geht, bestätigt das vor allem die Dreherlaubnis von Amazon. Und wenn einer der weißbärtigen Nomaden-Gurus merkwürdige Weisheiten von sich gibt wie: „Früher hat man den Pferden ein Gnadenbrot gegeben. Jetzt sind wir die Arbeitspferde und müssen selber für unser Gnadenbrot sorgen… so ist das eine Einwilligung in eigentlich unhaltbare Zustände. Gegen diese hat Sidney Pollack bereits 1969 in seinem Film Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss sehr viel vehementer protestiert. Die Details von Nomadland stimmen, verweisen aber kaum über die altersmilde Welt dieser modernen Nomaden hinaus. Es gibt gesundheitliche und finanzielle Tragödien, aber keine gesellschaftlichen Konflikte. Nur einmal schlägt für den schrecklichen Bruchteil einer Sekunde lang die Außenwelt in Gestalt eines unsichtbaren Wächters gegen Ferns Wagenfester.
Aber ohne Konflikt, ob nun unterhaltend oder politisch, gibt es eben keine Erzählung. Und ohne Erzählung wird alles gleich authentisch bzw. unauthentisch. Darum erscheinen John Fords Früchte des Zorns, gedreht 1940 nach dem Roman von John Steinbeck und auf der Dürre im Oklahoma der 1930er basierend, auch heute noch authentisch.
In The Rider bedeuten die Ritte auf tonnenschweren für die jungen Indianer etwas Geld, Selbstbestätigung und die Chance wenigstens für kurze Zeit das niederschmetternde Reservat zu vergessen. Der Konflikt besteht in dem schmerzhaftsn Lernprozess des „Riders“, der akzeptieren muss, dass er mit seiner Kopfverletzung nicht mehr darf, was er wirklich gut kann und gern macht. Die  Arbeit mit Pferden und das Bullenreiten sind vorbei. Diese Entwicklung wird durch kleine, aber eben genaue Handlungen gezeigt: Wie der Vater besser mit dem Lasso umgeht, der überraschend höfliche Umgang der jungen Rodeoreiter miteinander oder ihre Besuche bei dem einen, dem besten, der am schwersten verletzt worden ist und nun völlig hilflos ist. Die 20 Sekunden langen Handyfilme von ihren Bullenritten, die sie sich immer wieder vorspielen, werden zur Quintessenz ihres Lebens (und vielleicht des Kinos).  

Nach einem gefühlt sehr, sehr langen ersten Abschnitt versucht David, der Nomade (David Strathairn), eher erfolglos die spröde Fern an sich zu binden. Die Versuche enden damit, dass er zu seiner selten kultivierten Familie zurückkehrt. Später wird Fern den Ex-Nomaden besuchen. Sie ist willkommen, alles, inklusive dem vierhändigen Klavierspiel, ist perfekt. Trotzdem verlässt Fern das Haus heimlich am frühen Morgen… Die Straße ruft, Nomade ist, wer freiwillig der Verlockung des weiten, wilden Amerikas nachgibt.
Im letzten Teil muss Fern zu ihrer Schwester, um sich Geld für die Reparatur ihres Wagens zu borgen. Beim Grillen fragt sie den Schwager, einen Grundstücksmakler, ob es vor 2008 fair war, all die Leute zum Kauf von Häusern zu überreden, die sie sich eigentlich nicht leisten konnten. Eine der wenigen, nicht völlig schaumgebremsten Kontroversen in Nomadland. Später, im Gespräch mit ihrer Schwester wird klar, dass Fern, damals als sie ihre Familie verließ. wenig Rücksicht auf ihre Familie genommen hat: Nomadland als Fallstudie.

Frances McDormand, bekannt durch Fargo, schon zuvor Inhaberin von zwei Oscars und nebenbei verheiratet mit einem der beiden Coens, hat die Rechte an dem Buch von Jessica Bruder erworben, Nomadland produziert, die aufsteigende Regisseurin Chloe Zhao engagiert und die (fiktive) Fern gespielt. Ein nicht besonders scharfsichtiger Unternehmer hat ihr während der Dreharbeiten sogar einen Job angeboten. Am Ende streift Fern durch ihr verlassenes Haus in Empire und hat sich anscheinend mit dem Verlust ihres Mannes ausgesöhnt. 
Für ihre Hauptrolle hat Frances McDormand einen dritten Oscar bekommen und Chloe Zhao arbeitet an ihrem nächsten Projekt: einem Marvel Blockbuster namens Eternals. Wenn das nicht authentisch ist.

Tschavgova

"Three Billboards Outside Ebbing, Missouri"(2017) ein Film zum Niederknien mit dieser großen Schauspielerin in der Hauptrolle. Tolle Frau! Werd ich nie vergessen!

Do. 24/06/2021 10:52 Permalink
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+