25/03/2021

Filmpalast – 21

NEWS OF THE WORLD

ein modernen Western von Paul Greengrass

119 Min., USA, 2020

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Filmkritik von
Wilhelm Hengstler

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25/03/2021
©: Wilhelm Hengstler

Totgesagte leben länger, das gilt auch für Genres. Seit der urbanen Zivilisation nicht mehr zu entkommen ist und sich Frauen selber ihre  Kinokarten kaufen, gelten Wildwestfilme als passe. Der Spruch „der erste Film war ein Western und der letzte wird ein Western sein", ist Vergangenheit. Trotzdem bieten manche neue Western neben Spannung mehr soziale Relevanz als je. News of the World auf Netflix präsentiert und gedreht von Paul Greengrass, dem durch seine atemlos-rasanten „David Bourne Filme“ bekannten Thrillerspezialisten, ist ein gutes Beispiel. Greengrass schickt Tom Hanks als Captain Jefferson Kyle Kidd und die durch den Film Systemsprenger berühmte, deutsche  Kinderdarstellerin Helena Zengell 500 Meilen durch ein vom Bürgerkrieg zerrissenes Texas.

News of the World versus Der Schwarze Falke
News of the World übernimmt den Faden dort auf, wo er in John Fords Der schwarze Falke endet. In Fords Klassiker liefert John Wayne nach einer jahrelangen Suche seine von Indianern geraubte Nichte Debbie zuhause ab. News of the World erählt wie Tom Hanks als Captain Jefferson Kyle Kidd, die von den Kiowas geraubte Johanna Leonberger zu ihren Verwandten nahe San Antonio bringt. Der Captain war vor dem Krieg Inhaber einer Druckerei in San Antonio, nun liest er, der an die Macht von Geschichten glaubt, den Menschen in den Grenzstädten aus überregionalen Zeitungen vor. Nur per Zufall an Johanna geraten, lässt er sich, da ansonsten niemand die Verantwortung übernimmt, auf die Reise mit dem wilden Kind nach San Antonio ein. Auf diesem „Roadmovie“ zeigen sich die zivilisierten Weißen allerdings als gleich gefährlich, wie die Kiowas, bei denen Johanna, deren Namen jetzt Cicada lautet, aufgewachsen ist.

Geschichte einer Integration
In News of the World geht es vor allem um die Geschichte einer Integration, und man muss kein Genie sein, um die Parallelen zu sehen. Johanna hat bei den Kiowas die Muttersprache verlernt, nun muss sie ihr Kiowa vergessen, um wieder Englisch zu lernen. Captain Kidd gleicht dabei dem Entdecker James Cook, der davon ausging, dass jedermann auf der Welt Englisch versteht, wenn man es nur deutlich genug spricht. Aber das Reden ist das kleinere Problem, die verlassene Johanna muss auch eine neue Kultur mit ihren fremden Codes erlernen. Das Konzept von Häusern, die nicht abgebaut und mitgenommen werden können, erscheint der kleinen Wilden verrückt, noch verrückter sind die in die Hauswände geschnittenen Löcher, sprich Fenster. Freundliche oder auch nur banale Gesten fasst sie als Bedrohung auf, Eigentum an Tieren – Pferde ausgenommen – kennt sie nicht und selbst Captain Kidds spärliche Besitztümer erscheinen ihr als „Überreichtum“. Kulturelle Unterschiede sind üblicherweise Komödienstoff. News of the World zeigt dagegen den Horror der Integration oder Zivilisierung mit einer Einfühlsamkeit, die an Truffauts Der Wolfsjunge erinnert. Tom Hanks geduldiger Captain Kidd hat mehr mit dem von Francois Truffaut gespielten Dr. Itard in Der Wolfsjunge gemein, als mit den mythischen Haudegen John Wayne in Der Schwarze Falke.

Anthropologie und Politik
Die Beziehung des ungleichen Paares Captain Kidd und Johanna entwickelt sich in der Bewältigung äußerer Bedrohungen. Als drei heruntergekommene Banditen dem Captain das Kindmädchen abnehmen wollen, um es in die Prostitution zu zwingen, kommt es zu einem erbitterten Showdown in der Wildnis. Der Captain und seine Schutzbefohlene überleben dank ihres Vorschlages die nutzlose Vogelflinte mit Centstücken aus den Einnahmen des Vorabends zu laden. Die kindliche Schauspielerin Helena Zengel spannt einen beachtlichen Bogen von einem kleinen Mädchen zu einer unerbittlichen Kämpferin für beider Überleben. Die toten Feinde zu skalpieren verbietet ihr Captain Kidd allerdings, aber immerhin malt sie als Zeichen für einen großen Sieg die Abdrücke ihrer Hände auf die Flanken seines Pferdes.
Der sensible Umgang des Films mit Kultur und Anthropologie der Indianer liegt zweifellos an der Autorin der Romanvorlage. Die 1943 in Salem, Missouri, geborene Paulette JiIes arbeitete zen Jahre lang in Kanada am Aufbau eines Senders für indigene Völker mit und lernte dabei auch die Ojibwe-Sprache. Dafür zeigt der Thrillerspezialist Paul Greengrass in News oft the World eine erstaunliche Geläufigkleit politisch aktuelle Themen in seinen Western zu integrieren. Schon der historische Hintergrund des Filmes – das 1870 nach dem Bürgerkrieg zerrissene Texas – ist aktuell. Die Texaner als Kriegsverlierer und  die siegreichen Nordstaatler bilden eine durch einen tiefen Graben geteilte Zweiklassengesellschaft. Gouverneur Edmund J. Davies, der das Land nicht nur mit Dekreten jenseits der Verfassung regiert, verstärkt diese Teilung. Nach einer verlorenen Wahl 1873 weigert er sich auch noch seinen Amtssitz zu räumen. Auch die Medienproblematik lässt grüßen, als Captain Kidd sich weigert aus dem regionalen Schundblatt – eigentlich eine politische Propagandaschrift – eines willkürlichen Unternehmers vorzulesen. Er stellt das Publikum vor die Wahl, das sich für News oft the World entscheidet. Als der Tyrann den unbotmäßigen Vortragskünstler umgehend erschießen will, wird er seinerseits von Johanna getötet. Die sprachliche Kommunikation der beiden Reisenden hat da noch Luft nach oben, aber ihre gegenseitige Solidarität wird immer unverbrüchlicher.

Reise zu sich selbst
Das Motiv des Unterwegsseins als einer Reise zu sich selbst schiebt sich gegen Ende des Films in den Vordergrund. Johanna muss sich des Überfalls auf ihre Familie erinnern und Captain Kidd reitet, nachdem er das Kind schweren Herzens bei Onkel und Tante zurücklässt, in das nahe San Antonio weiter. Dort akzeptiert er endlich den Tod seiner Frau, bevor er zu Johanna zurückkehrt, der es bei ihren Verwandten schlechter als je zuvor geht. Er befreit sie von dem Pflock, an den man sie wie einen Hund angebunden hat, um sie am Fortlaufen zu hindern. In einem Epilog kassiert die fast erwachsene Johanna Eintrittsgelder, während Captain Kidd seine Zeitungen vorliest.

Im gegenwärtigen Kino gibt es keinen besseren „guten Menschen“ als Tom Hanks, während der Ethan Edward von John Wayn in Der Schwarze Falke völlig uneins mit sich, ja zerrissen ist. John Wayne wird auf seiner langen Suche nach Debbie von dem jungen Martin Pawley begleitet, der verhindern will, dass der Indianerhasser Ethan seine Nichte womöglich tötet. Und tatsächlich steht der ganze Film auf der Kippe, wenn John Wayne Natalie Wood als seine Nichte hochhebt und niemand, nicht einmal er selber, weiß, ob er sie im nächsten Moment umbringt oder umarmt. Solche Widersprüche fehlen in dem rationalen, politisch korrekten News oft the World. Dem modernen Western von Paul Greengrass fehlt allerdings die emotionale Fallhöhe von John Fords archaischem Der Schwarze Falke.

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