24/09/2024

Die Zeit lässt nicht locker, hat uns fest im Griff, immer noch setzen wir auf Symboliken, die fest in der Vergangenheit verankert sind und als Geschichte differenzieren. Die Kriege, die in und um uns toben, sind immer auch symbolische. Wir haben die Wahl, ob wir uns für eine Seite entscheiden, wir entscheiden, wie sich die Zukunft gestaltet. 

Zu Themen, die die Gesellschaft aktuell bewegen. Jeden 4. Dienstag im Monat.

24/09/2024

the ugly spirit, 2024

©: Severin Hirsch

Wahltag ist Zahltag, Rekapitulation der vergangenen Geschehnisse, vollbrachter Taten und verschwiegener Versäumnisse, ein richtungsweisender Fingerzeig für die Wünsche an die Zukunft, ein Finger auf der Wunde offener Rechnungen – oder wahrscheinlicher nur ein Standbild der derzeitigen Gemütsverfassung und ein Resümee der letzten Wahlkampfwochen und der Selbstdarstellung in der politischen (Re-) Präsentation.

„In diesem Sinn ist die Rekapitulation nur das andere Gesicht der typologischen Beziehung, die sich im messianischen kairós zwischen Gegenwart und Vergangenheit einstellt. Daß es sich dabei nicht nur um eine Präfiguration, sondern um eine Konstellation und beinahe um eine Einheit der beiden Zeiten handelt, ist der Vorstellung inhärent, daß die ganze Vergangenheit sozusagen summarisch in der Gegenwart enthalten ist, so daß der Anspruch eines Restes, als Ganzes zu gelten, hier eine weitere Grundlage findet.“ (Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Frankfurt am Main, 2012. S. 91.)

Es wäre ein günstiger Zeitpunkt, „die Gelegenheit beim Schopf zu packen“ und eine neue Epoche einzuleiten, sowohl der Vergangenheit als auch der Zukunft neue Orientierungspunkte zu bieten. Kairós (vgl. zeitenweise – 2), der unbedeutende Gott der griechischen Mythologie für den günstigen Zeitpunkt, dem ein lockiger Haarschopf ins Gesicht fällt, um ihn bei einer Begegnung ergreifen zu können, mischt die Karten des Vergangenen und Zukünftigen im Hinblick auf die Ausrichtung der Geschichte, die Teleologie neu und vermag dadurch Chronos, den Gott der (sequentiellen) Zeit, und Äon, den Gott des Zeitalters, auszuspielen. Kairós am Schopf zu packen, heißt nicht weniger, als von der Vergangenheit, von einer bestimmten Darstellung der Geschichte, der Tradition, der Überlieferung, loszulassen (dafür spricht auch sein kahler Hinterkopf), und den gegenwärtigen Moment zu ergreifen, um die Unbestimmtheit der Zukunft mit der Gesamtheit ihrer Potentialität auf uns zukommen zu lassen – das Unbekannte, Ungewisse, Fremde, das Messianische (an und aus) der Zukunft. Soweit zu einer Strategie, einer Geisteshaltung, die Veränderung zulässt und zum Ende einer Epoche basierend auf Ausbeutung (der Menschen und der Natur) beitragen könnte, ebenso sehr wie der altgriechische Begriff der epoché aus der philosophischen Tradition der Skepsis stammt und so viel wie „Zurückhaltung, Enthaltung“ einer Meinung, eines Urteils, das von offensichtlichen Ungereimtheiten und Widersprüchen durchsetzt ist, bedeutet. Wir können diese Widersprüchlichkeiten sehen, anerkennen, diskutieren und aufzulösen versuchen oder wir ignorieren und verschweigen sie und tun unsere Meinung als die einzig mögliche Darstellung der Wirklichkeit, als einseitige Wahrheit kund.

In dieser Unentschiedenheit, Unbestimmtheit, Ungewissheit, der Enthaltung, der Zurückhaltung eines Urteils liegt aber zugleich auch der Fluch gesellschaftlicher Ansprüche. Wir sollen zu allem und jedem mit sofortiger Wirkung eine Meinung haben, Position beziehen, Partei ergreifen, sollen urteilen, verurteilen und uns in diesem Wirrwarr an Widersprüchlichkeiten zurechtfinden, ohne in Diskussionen, einen offenen, öffentlichen Diskurs eingebunden zu sein. Die schillernde Farbpalette zwischen schwarz und weiß ist verloren gegangen, weshalb wir zu einer offensiveren, aggressiveren, unreflektierteren Strategie greifen müssen: anstatt anzuhalten, innezuhalten, uns zurückzuhalten, auf die messianische Ankunft des Kairós, des günstigen Moments zu warten, ergreifen wir statt seines Schopfes die Rockzipfel irgendwelcher und erstbester lautstark anspruchslose Sprüche klopfender Ersatzmessiasse und übernehmen deren Äußerungen als unsere Meinungen, um über andere zu urteilen und übersehen dabei, dass nur das Andere, (uns) Fremde Veränderung bringen kann.

Nach kurzer Abkühlung mit heftigen Regenfällen konnten dann doch noch der Herbst in der Steiermark und der Steirische Herbst beginnen. Horror Patriae, der Schrecken (vor) der Heimat. Das „Aufsteirern“ fiel den Unwettern zum Opfer, trotzdem bewegten sich aufopfernde Menschen in Trachtenmode durch die Stadt und ertränkten ihre Trauer über die Absage in Alkohol, während andernorts um ertrunkene Menschen, Tiere und eine ertrinkende Außenwelt getrauert wurde. Horror Patriae. Heimat. Heimatland. Begriffe, die uns an eine Vergangenheit, eine Geschichte, eine Verwurzelung, einen Boden binden, die uns fangen und festhalten und eine Zukunft prophezeien, die schon festgeschrieben ist. Die Zukunft ist wie die Vergangenheit, nur besser – durch permanentes Wachstum. Du kannst deinen Reichtum in derselben Erde vergraben, die schon deine Vorfahrenden beackerten und in der sie begraben sind. Wir sitzen auf einem Totenbett und sind bereit, dafür zu sterben. Bereit, dafür zu töten. Horror Patriae. Neben Wahlplakaten wie „Ihr seid der Chef, ich euer Werkzeug“ – weil bei der FPÖ haben immer noch die Männer das Sagen – tauchen in Graz plötzlich Fake-Wahlplakate mit austrofaschistischen und nationalsozialistischen Motiven auf. Ein Rückgriff in die (österreichische) Geschichte, der den Geist zusätzlich belebt. Der Schwiegersohn des kürzlich verstorbenen Rampenlichtbaulöwen Richard Lugner sorgt im „Team Kickl“ für Lichtflackern, indem er das Denkmal für den 1999 in Schubhaft von Polizisten zu Tode geprügelten Marcus Omofuma als Schandmal, das verschwinden müsse, und die Söhne der SPÖ als anerzogene Transsexuelle bezeichnet. Trans-Parenz. Ein bisschen was wegradieren, ein bisschen was dazu erfinden und schon passt sie wieder, die Geschichte. Erst im Zuge der Waldheim-Affäre um seine Beteiligung an Kriegsverbrechen wurde in Österreich offen über eine Mitschuld/Mitverantwortung an den Kriegsverbrechen des NS-Regimes diskutiert. Horror Patriae. Im Libanon explodieren Pager und Walkie-Talkies, nachdem sie zuvor vom israelischen Geheimdienst mit Sprengladungen versehen wurden. Angeblich. Wir haben keine Ahnung, was an Technologie wir so mit uns herumtragen. Wir werden uns noch wundern, was alles möglich ist. Durch die westliche militärische Unterstützung kann die Ukraine russisches Terrain besetzen. Aus einem Verteidigungskrieg wird ein Angriffskrieg. Krieg bleibt Krieg. Der russische Bär ist grimmig und droht die Welt zwischen seinen Tatzen zu atomisieren.

Krieg ist auch immer ein Krieg der Symbole. Immer herrscht Krieg. Es kommt nur auf die Art der Werkzeuge an, wie der Krieg geführt wird. Ich kann keine Position beziehen, mich auf keine Seite schlagen. Ich verabscheue Krieg – in jeglicher Form. Ich muss mein Urteil zurückhalten, mich einer Meinung enthalten. Innehalten. Erst wenn wir gemeinsam lernen, neue Relationen, neue Symbole, eine neue Symbolik zu erschaffen, die sich nicht im Netz der Geschichte, der Vergangenheit verfangen und einen Rattenschwanz an Dichotomien, Ambiguitäten, Ambivalenzen, Binaritäten und Oppositionen mit sich ziehen, wird sich etwas verändern. Erst wenn Kairós auf die messianische Zukunft/Ankunft trifft, wird die Epoche beendet sein.

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