25/06/2024

Im März und Mai dieses Jahres starben zwei Mitarbeiter der Firma Boeing, die bekannt für ihren Lobbyismus ist, auf mysteriöse Art und Weise. John Barnett und Joshua Dean übten öffentliche Kritik an technischen Mängeln, danach beging Barnett angeblich Selbstmord und Dean starb unerklärlich an einer bakteriellen Infektion. Doch es gibt auch Geschichten von einflussreichen Menschen, die ihr Leben sozialen Veränderungen und politischen Visionen widmeten.

Zu Themen, die die Gesellschaft aktuell bewegen. Jeden 4. Dienstag im Monat.

25/06/2024

monster tears

©: Severin Hirsch

„Man muss nüchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.“ (Antonio Gramsci, Gefängnishefte. Heft 28, §11. Hamburg 1991. S.2232.)

„Idiota ist, wer verschieden ist, wer anders als die Mehrheit spricht. […] Er bedeutet weiterhin: der, der mit seinem eigenen Kopf denkt.“

„Die Sprache (linguaggio) formt sich um mit der Umformung der ganzen Gesellschaft, mit dem Vorstoß neuer Klassen in die Kultur, mit der Vorherrschaft einer Nationalsprache über andere usw., und sie assimiliert präzise auf metaphorische Weise die Worte der vorhergehenden Gesellschaften und Kulturen. Keiner weiß heute mehr, dass das Wort ´dis-astro‘ einmal ein Fachausdruck der Astrologie war […].“ 

(Antonio Gramsci, Sotto la Mole, Turin 1960. S. 281-282 u. ders., Il materialismo storico e la filosofia di Benedetto Croce. Turin 1952. S. 149. Zitiert in: Sabine Kebir, Die Kulturkonzeption Antonio Gramscis. S.6. u. S.95. www.max-stirner-archiv-leipzig.de/dokumente/KebirKulturkonzeptionGramscis.pdf abgerufen am 24.06.2024)

 

Der deutsche Begriff „Idiot:in“ leitet sich vom Lateinischen idiota (=unspezialisierter, ungebildeter Laie) ab, der seinerseits vom Altgriechischen ἰδιώτης (idiotes) stammt und eine Privatperson bezeichnete, die sich nicht am öffentlich-politischen Leben der Polis beteiligte und keine Ämter besetzte, selbst wenn diese ihr zustanden – demnach aus heutiger Sicht ein zurückgezogener Jemand mit eigenem Kopf und eigenem Willen, der sich nicht durch Selbstermächtigung wie ein nimmersatter Bär an den Honigtöpfen der Allgemeinheit bedient und sich in nepotistische Verstrickungen begibt.

Ein Trottel also, der die ihm durch Verwandtschaftsverhältnisse gebotenen Möglichkeiten ausschlägt und die Chance nicht ergreift, sich an der Bevölkerung zu bereichern. Ein idealistischer Mensch, der nichts in der Politik verloren hat und dem niemand aus den ökonomisch-politischen Sphären trauen kann. Ein/e Idiot/in ist so gesehen jemand, der das Eigene, die Eigenheiten kultiviert, was aber – siehe oben – nicht unbedingt auf eine Form von Egoismus hindeutet. Denselben Wortursprung hat auch die Bezeichnung „Idiom“, die eigentümliche Sprechweise einer einzelnen Person (Idiolekt), einer Gruppe von Personen, die regional (Regiolekt, Dialekt) oder sozial (Soziolekt) ab- oder ausgegrenzt sind oder das selbst so wollen. Nicht nur Idiot:innen sprechen ihre eigene Sprache, ihr eigenes Idiom, jede Gegen- und Subkultur, jede spezialisierte Berufsgruppe, jede Scientific Community hält an ihrem jeweiligen Idiom fest und die regionalen Dialekte wie auch die Soziolekte verweisen in ihren jeweiligen Eigenheiten gewissermaßen auf eine Art Herkunft – ob vom Ausland, vom Land, aus akademischen Umfeld, vom Adel oder Großbürgertum, aus niedrigeren sozialen Milieus, aus dem Hip-Hop usw. hat das Idiom immer auch die Funktion des Verweises, Zugehörigkeit, Identifikation zu (er)schaffen und die Möglichkeit als Allgemeinwortschatz in die Sprache einzufließen.

Der 1891 auf Sardinien geborene und aus albanischer Minderheit stammende Antonio Gramsci war ein Mann von großer Willenskraft und außerordentlichen intellektuellen Fähigkeiten, die sich nicht unbedingt in seiner körperlichen Konstitution widerspiegelten. Ein durch einen Unfall im Kleinkindesalter verursachter Buckel, Knochentuberkulose und Schwindsucht änderten nichts an der Tatsache, dass er eine imposante Persönlichkeit war, die früh mit der sozialistischen Bewegung in Berührung kam und eine wesentliche Rolle in der Gründung und Führung der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) spielte. Sein Widerstandsgeist gegen die faschistische Bewegung brachte ihm gegen Ende 1926 nach einem misslungenen Attentat auf Mussolini (nicht durch ihn) und der darauffolgenden Auflösung der Oppositionsparteien und der Pressefreiheit eine mehrjährige Haftstrafe ein, die in Kombination mit seinen körperlichen Gebrechen und den daraus resultierenden Krankenhausaufenthalten bis an sein Ende 1937 den örtlichen Bezugsrahmen für sein Leben bildete. Sein geistiger Bezugsrahmen blieb trotz Haft und Krankheiten weiterhin offen und im Widerstand, wovon seine über 2800 Seiten umfassenden Gefängnishefte Zeugnis ablegen. Ende 1926 war er auf der nördlich von Sizilien gelegenen kleinen Insel Ustica, die den Faschisten als Verbannungsort für politische Gegner diente, für 44 Tage gemeinsam mit Amadeo Bordiga, dem Gründer und ersten Vorsitzenden der KPI, inhaftiert. Unsere kleine Sommerreise wird uns noch an diesen Ort zurückführen.

Gramscis Denken hat neben der politischen Tragweite großen Einfluss auf Philosophie, Politik- und Kulturwissenschaften ausgeübt. Seine Theorie der kulturellen Hegemonie findet sich in abgewandelter, modifizierter Form vor allem bei Michel Foucault wieder. Zentral am Gedanken der kulturellen Hegemonie ist, dass die (geistige Hegemonial-) Macht die Fähigkeit hat, alle Bereiche des kulturellen Lebens (Wirtschaft, Politik, Sprache, Kunst, Architektur, Medien usw.) zu durchsetzen und die Beherrschten diese als ihre eigenen gesellschaftlichen Interessen anerkennen zu lassen, wodurch sie in stiller Übereinkunft (und stillem Gehorsam) dem unkenntlich gemachten, verschleierten Oktroy der Herrschaftsverhältnisse zustimmen. Die Macht der Vereinheitlichung, der Gleichschaltung (nicht Gleichstellung!) fegt hinweg über Idiot:innen und Idiome und legt die Freiheit des Individuellen in Ketten. Bis zum Tod. Das große Sprachensterben, Dialektsterben, Kultursterben, Meinungssterben, Gedankensterben. Wie der Faschismus kennt auch der Kapitalismus kein Halten, macht keinen Halt, muss wachsen und fortschreiten und über Leichen gehen.

Auch Österreich war einst Hegemonialmacht. In der Zwölften Isonzoschlacht kam es durch Unterstützung deutscher Truppen zwischen Bovec und Tolmin zu einem massiven Einsatz von Giftgas (Blaukreuz und Grünkreuz aus einem Abfallprodukt der Firma BASF), der trotz Gasmasken über 40000 Opfer auf italienischer Seite forderte und deren Front zurückdrängte. Den Untergang der Monarchie konnte dieser Sieg trotzdem nicht aufhalten. Hier beginnt die faszinierende Familiengeschichte Die Marschallin der Schweizer Architektin, Journalistin und Autorin Zora del Buono, mit der sie ihrer gleichnamigen Großmutter ein biographisches Denkmal setzt. Nonna Zora ist Slowenin und lernt im Ersten Weltkrieg im Sočatal einen gutbürgerlichen Arzt kennen, mit dem sie später in Bari ein herrschaftliches Haus bezieht und eine Privatklinik betreibt. Ihr Schwiegervater wird vom faschistischen Regime zum Bürgermeister der Insel Ustica ernannt, dennoch pflegt das Ehepaar guten Kontakt zu Gramsci und später auch zu Tito, den sie im Partisanenkampf sogar mit Waffenlieferungen unterstützen. Trotz ihrer bürgerlichen Umstände stehen sie in enger Verbindung zum (italienischen) Kommunismus und wollen beim Kampf gegen den Faschismus und bei den sozialen Umbrüchen vor, im und nach dem Zweiten Weltkrieg an vorderster Front stehen.

1926, als die Faschisten Gramsci festnahmen, wurde Giangiacomo Feltrinelli in Mailand in einer der reichsten Familien Italiens, die eng mit der Habsburg-Monarchie verflochten war und die deutschen Werte und die deutsche Sprache hochhielten, geboren. Trotz des Reichtums, der auf Holzhandel (unter anderem hatte die Familie Waldbesitze in Kärnten und der Steiermark) und der Beteiligung an europäischen Eisenbahngesellschaften gründete, hatte Giangiacomo schon früh ein Auge für soziale Ungleichheiten. Der frühe Tod des Vaters, das komplizierte Verhältnis zur Mutter, der Umstand, in einem goldenen Käfig ohne Spielkameraden aufzuwachsen, schärften diesen Blick. „Wenn ich groß bin, werde ich Maurer. So werde ich immer die Sonne sehen und frei sein.“ (DU, Zeitschrift für Kultur. No. 724, 2002. S. 78.) Kaum verwunderlich, dass seine Mutter alles daransetzte, den jungen marxistischen Rebellen, der schon früh der KPI beitrat, zu enterben, was ihr aber schlussendlich nicht gelang. Mit seinem Erbe gründete Giangiacomo 1954 den Feltrinelli-Verlag, der innerhalb kürzester Zeit zum erfolgreichsten italienischen Verlag wurde – unter anderem ließ er Doktor Schiwago aus der kommunistischen Sowjetunion über Ostberlin nach Italien schmuggeln, um Boris Pasternaks in seiner Heimat verschmähten Roman zu verlegen. 

Durch den großen (finanziellen) Erfolg der Publikation, den Verkauf der Rechte an Verlage in aller Welt, nicht zuletzt angekurbelt durch den Nobelpreis für Pasternak 1958, kam es zu einem Zerwürfnis mit der KPI. Feltrinelli galt in der KPI seit jeher als Verrückter, wurde aber ob seiner großzügigen Parteispenden bis dahin geduldet. Von da an verlagerte er seine politischen Ambitionen in den Untergrund und nach Kuba, wo er die Revolution unterstützte und Bekanntschaft mit Fidel Castro und Che Guevara (dessen Chauffeur der Schweizer Soziologie, Politiker, Autor, Aktivist Jean Ziegler auf der Weltzuckerkonferenz 1964 in Genf war und zu dem Che damals gesagt haben soll: „Dein Platz ist hier. Hier ist das Gehirn des Monsters. Hier musst Du kämpfen.“) machte. Sein aus einem Gruppenbild entnommenes Portrait Che Guevaras ist vermutlich das bis heute meistverbreitete Foto der Geschichte. Feltrinellis Aktivitäten im politischen Untergrund Italiens radikalisierten sich zunehmend und zielten gegen das kapitalistische System. Er gründete seine eigene terroristische Zelle (GAP – Gruppo d’Azione Partigiana), mit der er mehrere kleinere Anschläge verübte. Im März 1972 verunglückte er angeblich beim Versuch, einen Hochspannungsmast zu sprengen. 2010 wurde das Verfahren wieder aufgenommen, weil seine Verletzungen der Unfallstheorie widersprachen. Feltrinelli wurde von der CIA und vom italienischen Geheimdienst observiert. Zu seiner Beerdigung kamen aufgrund seines sozialen Engagements zahlreiche radikale Fußballfans, um einen der ihren zu ehren.

„Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.“ (Antonio Gramsci. Angeblich.)

Es gilt (schon jetzt) die Geschichte durch Geschichten zu umschreiben und die Geschichte umzuschreiben. Geschichten (er)zählen. Geschichte(n) (er)finden. Idiome (er)finden.    

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