26/03/2024

Wenn stets mittelfristige Eigeninteressen und langfristige Machterhaltung im Zentrum von Entscheidungsfindungen stehen, wird sich die Welt niemals grundlegend verändern können, solange Menschen diese Entscheidungen treffen, deren Verankerungen und Beziehungsgeflechte sich wie Flüsse in die Struktur gefressen haben.

Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

26/03/2024

universal pain

©: Severin Hirsch

Wie vertreibt man einen tobenden Riesen und sorgt für einen nachhaltigen Frieden? Indem man all seinen ausgelagerten Besitz beschlagnahmt und die Gewinne an andere Riesen verfüttert, sie noch größer und stärker macht und darauf hofft, ihn mit deren zunehmender Macht in die Flucht zu schlagen. Was wie ein russisches Märchen beginnt, kann sehr schnell als globaler Albtraum enden. 

Als die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen vor wenigen Tagen verkündete, die Europäische Union werde aus den Gewinnen des eingefrorenen russischen Vermögens Waffen für die Ukraine kaufen, hörte sich das im ersten Moment wie ein schlechter Witz, schärfster Zynismus oder die reinste Provokation an. Die Redewendung „jemanden mit den eigenen Waffen schlagen“ erhält in diesem Kontext für Putin und seine Gefolgschaft eine völlig neue Bedeutung, eine Praxis, die man sich bestenfalls von einer kommunistischen Partei erwarten würde – wie das zum Beispiel in Graz nach der Wahl der KPÖ der Fall war, wo viele beunruhigte Kleingeister und Beschwörer:innen von Horrorszenarien von einer Beschlagnahmung des Privateigentums sprachen -, aber keineswegs von der EU. Die verfolgt ja im Regelfall bekanntermaßen andere finanzielle Strategien der Umverteilung – von unten nach oben unter Berücksichtigung der Unantastbarkeit der Vermögen von globalen Riesen und Ignorierung der Unantastbarkeit menschlicher Würde. In diesem Fall aber zeigt sie Innovationsgeist und begibt sich sowohl rechtlich als auch politisch auf sehr dünnes Eis. 

Die Reaktion aus Moskau ließ verständlicherweise nicht lange auf sich warten, die EU-Kommission wurde des Banditentums und Diebstahls und eines beispielslosen Verstoßes gegen das Völkerrecht bezichtigt, darüber hinaus wird mit jahrzehntelanger Strafverfolgung gedroht. Die Kontroversen innerhalb der EU-Länder zu diesem Plan tragen zudem die Sorge, Europa als wichtigen Finanzstandort durch die Verletzung von (staatlichem) Eigentum zu gefährden. Ganz zu schweigen von den politischen Konsequenzen, die die Umsetzung dieses Vorhabens hinsichtlich des Ukrainekonflikts nach sich ziehen könnte. Mit einem strauchelnden Riesen wie Putin sollte man vorsichtig umgehen, nicht zuletzt nach seiner Drohung im Falle einer personellen europäischen Beteiligung am Krieg auch vor dem Gebrauch von Atomwaffen nicht zurückzuschrecken. Erst recht nicht nach dem IS-Anschlag in Moskau, der über hundert Menschen das Leben kostete und Putins ohnehin schon schwankendes Fundament weiter dem Einsturz nahebringt, trotz aufgeblähtem Sicherheitsapparat und Warnungen aus dem Westen im eigenen Land nicht für Sicherheit sorgen zu können. Die Terroristen bekamen schon einmal einen körperlichen Vorgeschmack seiner immensen Wut, seine Unzurechnungsfähigkeit und Irrationalität spiegelt sich in der Schuldzuweisung Richtung Westen wider. Vielleicht ist es aber auch nur politisches Kalkül, um die Spirale der Gewalt nach außen hin enger zu ziehen und den internen Terror gegenüber der eigenen Bevölkerung weiter zu steigern.

Klare Positionen und starke, nachhaltige Entscheidungen sind in dieser Zeit gefragt. Von Lösungen und Frieden scheinen wir weit entfernt zu sein. Geld ist eine Waffe, aber keine Lösung. Das ausländische Kapital Russlands dafür einzusetzen, gegen Russland militärisch vorzugehen, könnte ein Schuss sein, der nach hinten losgeht. Dabei handelt es sich um geschätzte drei (von 300) Milliarden Euro jährlich, die für diesen Zweck eingesetzt werden könnten. Drei Milliarden, die dem einen Riesen genommen werden, um sie anderen Riesen zu geben, die allesamt eine Bedrohung der menschlichen Existenz darstellen. Nachdem sich in den letzten Jahren der Kampf um den Reichtum zugunsten der Digitalisierungsunternehmen, der Banken und – nicht zuletzt seit der Coronapandemie – der Pharmaindustrie wandte, soll nun auch wieder einmal die in den letzten Jahrzehnten ein klein wenig ins Hintertreffen geratene Waffenindustrie aus den Steuertöpfen versorgt werden. Leidtragende sind wie immer die Bürgerinnen und Bürgen, das gemeine Fußvolk, die indirekt helfen, den Reichtum der Konzerne und der wenigen Menschen, die sich das Geschick unseres Planeten untereinander aufteilen und neu auszuhandeln, zu vermehren.  Ob global oder lokal, das Großbürgertum hält die Zügel zur Lenkung der Welt immer noch fest in seinen Händen. Keine der Revolutionen der letzten Jahrhunderte konnte da Abhilfe schaffen. 

Ursula von der Leyen entstammt einer alteingesessenen Familie des deutschen Groß- und Bildungsbürgertums. Als geborene Albrecht reicht ihr Stammbaum bis ins 15. Jahrhundert zurück, ihre amerikanische Urgroßmutter Mary Ladson Robertson war Nachfahrin von James Ladson, der selbst einer prominenten englischen Familie entstammte, Offizier während des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs, Vizegouverneur von South Carolina und Plantagenbesitzer war. Sein gleichnamiger Sohn gehörte als reicher Plantagenbesitzer, Sklavenhalter und Konsul der Königsreichs Dänemark der amerikanischen Geschäftselite des 19. Jahrhunderts an. Als Tochter des niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht war ihr eine politische Karriere in der CDU praktisch in die Wiege gelegt worden, von wo aus sie als Kommunalpolitikerin, deutsche Familienministerin, Arbeitsministerin und Verteidigungsministerin die Erfolgsleiter bis an die Spitze der EU-Kommission emporklomm. Ihr Mann Heiko von der Leyen stammt ebenfalls einem altehrwürdigen deutschen Geschlecht ab, das sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Die Seidenweberdynastie wurde Ende des 18. Jahrhunderts in den Adelsstand erhoben und findet durch Lohnkürzungen 1828 auch bei Karl Marx als „erster Arbeiteraufstand der deutschen Geschichte“ Erwähnung. Was uns wieder zum Kommunismus führt.

Das dunkelrote Schreckgespenst konnte in Salzburg mit letzten und vereinten Kräften noch einmal abgewandt werden, doch die Wahl brachte nicht nur eine tiefe Unzufriedenheit mit der praktizierten Art der Politik zum Vorschein, sie ist auch eine Absage an eine Form des (historisch) verwurzelten Lobbyismus, der einigen wenigen in die Taschen spielt und den im Stich gelassenen Rest der Bevölkerungen vor den existentiellen Abgrund stellt. Wir werden zwar alle mit den gleichen Rechten geboren, aber die Möglichkeiten zur Entfaltung und zur Einflussnahme des wirtschaftspolitischen Geschehens nehmen außerhalb des tief verankerten Geflechts an Verbindungen und Bündnissen entscheidend ab. In seinem lesens- und empfehlenswerten autobiographischen Roman Rückkehr nach Reims beschreibt der französische Soziologe Didier Eribon seinen Eintritt in die Szene französischer Intellektueller in den 70-er und 80-er Jahren rund um Michel Foucault und das Vorschieben seiner Homosexualität vor seinen wahren Schandfleck – seiner Abstammung aus einer Arbeiterfamilie. Auch in intellektuellen Kreisen gibt es eine Vorherrschaft des (Bildungs-) Bürgertums und eine sich daraus ableitbare Machtgenese. Die Frage bleibt letztendlich, ob es jemals möglich sein wird, diese tief verwurzelten Machtstrukturen und geheimen, verheimlichten Bündnisse zu durchbrechen, um von einer Chancengleichheit für alle sprechen zu können. 

  

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