23/10/2023

Snøhetta ist ein Berg in Norwegen und eines der erfolgreichsten Architekturbüros der Welt. Das kunsthaus muerz zog die Ausstellung „Arctic Nordic Alpine“ von Snøhetta an Land. Sie schwimmt wie ein Eisberg an der Oberfläche, die Expertise, die in Snøhettas Projekten gebunden ist, bleibt im Eiswasser verborgen. So schade!

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Zusehen ist die Ausstellung „Arctic Nordic Alpine“ bis 19. November in Mürzzuschlag. Am 3. November findet im Rahmen der Ausstellung eine Ideenwerkstatt unter dem Titel STEIRISCHER SEMMERING statt. Kulturhistoriker:innen stellen das historische und aktuelle Bahnprojekt sowie Aspekte der Industrie- und Tourismusgeschichte der Region vor.

23/10/2023

Svart, Niedrigenergiehotel in Svartisen, Snohetta © Snohetta

Tverrfjellhytta, Norwegian Wild Reindeer Pavilion, Snohetta © Snohetta

Under – Europe’s First Underwater Restaurant, Snohetta © Snohetta

Snøhetta ist viel mehr als ein Berg in Norwegen, er ist unmittelbar mit der Identität des Landes verwoben. „In der Verfassung steht sinngemäß: Wenn der Snøhetta verschwindet, verschwindet Norwegen“, erzählt Kjetil Trædal Thorsen. Er führt die Presse durch die Wanderausstellung „Arctic Nordic Landscape“ von Snøhetta, die nun im kunsthaus muerz zu Gast ist. Die enge Verbindung zur Landschaft ist ein elementarer Bestandteil der DNA des Büros, das von Anfang an mit Landschaftsarchitekten zusammenarbeitet. 

Der Snøhetta liegt etwa dreieinhalb Zugstunden von Oslo entfernt. Das Architekturbüro Snøhetta ist längst mit über 400 Mitarbeitenden an neun Standorten zu einem riesigen Büro angewachsen. Alle zwei Jahre besteigt ein Großteil von ihnen gemeinsam den Snøhetta. Wer aus Norwegen und den Alpen kommt, geht rascher, die Kollegen und Kolleginnen aus Amerika, Australien und Asien langsamer. Die Schnellsten brauchen dreieinhalb, die letzten sechs bis sieben Stunden. „Der Berggipfel ist ein physischer Ort“, sagt Thorsen. Die Bewegung in der Landschaft, der gemeinsame Weg auf den Berg für alle ein besonderes Erlebnis, von dem sie noch monatelang zehren.

Thorsen, der mit Christoph Kapeller und Craig Dykers das Architekturbüro Snøhetta in Oslo gegründet hat, studierte an der TU Graz. 1989 gewann das junge Büro völlig überraschend den internationalen Wettbewerb für die Bibliotheca Alexandrina am alten Hafen von Alexandria. Wie eine Sonnenscheibe versinkt das runde, schräge Dach der Bibliothek im Wasserbecken, von dem das Gebäude umgeben ist. Auch das Dach des Opernhauses in Oslo von Snøhetta neigt sich schräg ins Meer. Man kann es betreten, zwei Millionen Menschen tun das jedes Jahr. Sie gehen vom Dach aus schwimmen, liegen darauf in der Sonne, schauen ins Meer oder laufen Eis, wenn es friert. Im Gebäude genießen kulturliebende Menschen in feierlicher Kleidung verschiedene Konzerte. Das Opernhaus katapultierte Snøhetta ins internationale Scheinwerferlicht. „Architektur hat viel mit Präpositionen zu tun“, erzählt Kjetil Thorsen. „Man kann in, aber auch auf unser Opernhaus gehen.“

Die Erwartungen an die Ausstellung „Arctic Nordic Alpine“ waren dementsprechend hoch. Sie ist schon weit gereist. 2020 war sie im Aedes Architekturforum in Berlin zu Gast, ein Jahr später in der Galerie Jaroslava Fragnera in Prag, 2022 im Polytechnikum in Mailand und im Zumtobel Lichtforum in Dornbirn. Heuer ist sie in Mürzzuschlag gelandet. 26 Projekte haben Snøhetta ausgesucht, um im kunsthaus muerz von der Beziehung zwischen dem Gebauten und der Landschaft zu erzählen. Drei faszinierende Landschaftsmodelle aus Holz baumeln von der Decke. Ihre Topografien sind nicht wie sonst üblich in Höhenschichtlinien aufgebaut, sondern bestehen aus vertikalen Schnittprofilen, in denen in winzigem Maßstab die Projekte sitzen. Die Modelle sind grob geschnitzt, die Erhebungen und Vertiefungen des Geländes modellieren auch ihre Rückseite, so dass sie fast wie knorrige Wurzeln wirken. Die Botschaft ist klar: Hier geht es um die Landschaft. Architektur darf an so einem vulnerablen Ort nicht dominieren, sie muss sich integrieren.

Daneben hängen lange, weiße Leinenbahnen dicht von der Decke, sie baumeln leicht und bilden schmale Gassen, die treibende Eisschollen assoziieren lassen. Man muss darauf achten, nicht anzustreifen. Stehen mehrere Personen davor, ist Rücksichtnahme angesagt. Das Gleichgewicht der Natur ist fragil. Jede Bahn zeigt unterschiedliches: Skizzen, Details, Lagepläne oder Grundrisse, je nachdem, was Snøhetta als passend zum Projekt empfanden. Fotos an den Wänden und Filme komplettieren die Ausstellung, die Beschriftung ist rudimentär: Projektname, Breitengrad, QR-Code. Letzterer führt zum entsprechenden Link auf der Website. Den kann man auch daheim nachlesen – aber er passt nicht zur intendierten Haltung der aufmerksamen Wahrnehmung.

„Wir haben den Informationsgehalt auf das Atmosphärische beschränkt“, sagt Patrick Lüth, der das Innsbrucker Büro von Snøhetta leitet. „Wir wollten nicht zu viele bautechnische Details zeigen, dafür mehr Artefakte aus der Produktion, die man auf der Website nicht sieht.“  Zum Glück beharrt Kristin Feireiss, Ausstellungskuratorin und Co-Gründerin von Aedes Berlin immer auf einer kleinen Publikation zu allen Ausstellungen, die dort zu sehen sind. Deshalb liegt ein kleines, quadratisches Booklet zur freien Entnahme auch im kunsthaus muerz auf. Das hilft enorm zum besseren Verständnis und lässt sich auch nach Hause mitnehmen.

Eine Bahn zeigt Skizzen, die stark vergrößert sind. Sie wirken dadurch fast wie japanische Tuschezeichnungen. Wieder ein runder Bau, der Stift sucht nach der richtigen Position an der Küstenlinie. Die Skizze gehört zu Svart. Es ist ein Niedrigenergiehotel in Svartisen, dem zweitgrößten Gletscher Norwegens. Er liegt knapp oberhalb des Polarkreises im Saltfjellet-Svartisen-Nationalpark. Das kreisförmige Projekt ist auf V-Stützen aufgeständert, die im Wasser stehen. Ein schmaler Steg führt auf die vulnerable Landschaft, automatisch regelt sie den Ansturm, das Gebäude selbst berührt den Boden nicht. Wieder ein Gebäude wie ein Ring, wieder im Wasser. Es thematisiert die paradoxe Beziehung zwischen Natur und Tourismus. „Alle wollen auf den Gletscher, die Touristen kommen haufenweise hierher“, sagt Kjetil Thorsen. Die Zufahrtsstraße kann man ihnen nicht nehmen, aber man kann ihr ein Ende setzen, damit wenigstens der Gletscher dahinter von Autos verschont bleibt.  „In so einer Landschaft kann Architektur nur sehr begrenzt etwas besser machen. Wichtig ist, mit dem Gebäude zu intervenieren, um Besucherströme zu kontrollieren und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass jeder, der in diesen Naturraum eindringt, als Person dafür Verantwortung trägt.“ Das ist ein immanent wichtiger Punkt, der bei der Presseführung mit Thorsen öfter zur Sprache kommt.

Von ihm ist viel zu erfahren: Dass die Rentiere, die man im Dovrefjell-Sunndalsfjella Nationalpark beobachten kann, die gleichen Rentiere sind, die schon die Steinzeitmenschen in der Höhle von Lascaux festgehalten haben. Snøhetta haben hier genau an der Grenze zum Nationalpark kleine Pavillons gebaut, in denen man die Tiere beobachten kann, ohne sie zu stören. Die Bilder der ikonischen Boxen mit der organisch geschwungenen, mit der Axt behauenen Sitzlandschaft aus Holz und dem schicken, schwarzen Kamin, der von der Decke hängt, gingen durch alle internationalen Architektur- und Lifestylemedien. In welch hochgradig schützenwerter Landschaft sie liegen, dass sie frei zugänglich sind und mitunter auch Menschen dort übernachten, ging da schon einmal unter. Apropos „Under“, das spektakuläre erste Unterwasserrestaurant Europas in Lindesnes, dem äußersten Süden Norwegens, ist nicht nur ein Luxusrestaurant mit Michelin-Stern, es ist auch eine Forschungsstation, wo man das maritime Leben unter Wasser beobachten kann, ohne es zu stören. Davon sieht man auch ein Foto: Es zeigt die aus dem Wasser ragende Restaurant-Röhre, die aussieht wie ein Fels. 

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