Es ist kaum zu glauben, wie sich Lebensbereiche, Kommunikationswege, Arbeitsumfelder, Versorgungswege, Mobilität, Finanzen oder Freizeitaktivitäten in den letzten Jahren verändert haben. Im Wohnbau lässt sich solch ein Trend, abgesehen von der Technisierung, nicht erkennen. Städte unterliegen jedoch einem stetigen Wachstum und sind gravierend von diesen Umwälzungen betroffen. Da die Nachfrage das Angebot übersteigt, brauchen wir immer schneller neuen Wohnraum. Dabei erschreckt die eingeschränkte Wahl- und Gestaltungsmöglichkeit, welche auf die künftigen Bewohner zukommt. Außerdem besteht die Gefahr, nicht materielle Qualitäten, welche sich vielmehr auf einer emotionalen, funktionalen und sozialen Ebene abspielen, zu vergessen. Werden neue Wohnformen gebraucht und sind unsere Wohnformen überhaupt noch zeitgemäß? Gemeinschaftliche Wohnbauten stellen dabei ein Gegenmodell zum Massenwohnungsbau dar. Der Wunsch nach Selbstverwaltung, Selbstbestimmung und nachbarschaftlichem Zusammenleben wird immer lauter. Dabei ist der Trend des gemeinschaftlichen Bauens kein neuer.
Eine Reise in die Vergangenheit versucht die Entstehung dieser Bewegung zu erörtern. Dabei muss man bis in das 19. Jahrhundert zurückgehen, um die Anfänge gemeinschaftlich organisierter Konzepte zu verstehen. Aus Not und Elend heraus wurden Wohnräume verdichtet und gemeinschaftliche Funktionseinheiten aktiviert. Dadurch konnte nicht nur mehr Wohnraum geschaffen werden, es wurden auch mehr Arbeitskräfte generiert, da Haushaltstätigkeiten zentralisiert wurden. Durch gegenseitige Unterstützung wurde das Alltagsleben erleichtert und Lebensbedingungen nachhaltig verbessert. Die Gedanken der Selbstorganisation, kamen erst im Zuge der 68er-Generation. Wiederum aus Not entstanden die ersten selbstorganisierten Wohngemeinschaften in bürgerlichen Wohnhäusern. Aus Hausbesetzungen, die durch Unzufriedenheit am Wohnungsmarkt entstanden, entwickelten sich die ersten selbstorganisierten Wohnbauprojekte. All diese innovativen Wohnlösungen sind zumeist in Zeiten der Veränderung, in Zeiten der Not und Ungewissheit entstanden.
Wo beginnt Wohnen?
Kann es sein, dass unser Wohnraum nicht erst hinter der Wohnungstür beginnt, sondern schon in unserem Haus, in unserem Viertel, in unserer Stadt, in unserem Land und sogar in Europa? Betrachtet man den Wohnraum in unterschiedlichen Maßstäben so entstehen hier Synergien. Je kleiner der Maßstab desto klarer, desto detaillierter die Elemente. Je größer der Maßstab desto unschärfer, desto gröber die Elemente. Geht man davon aus, dass der kleinste Maßstab eine Wohnung darstellt, welche auch die privateste Einheit symbolisiert, folgt im nächsten Schritt das Haus, in welchem sich unsere Wohnung befindet. Das Quartier, in dem wiederum das Haus steht, wäre der nächst größere Maßstab. Schließlich folgt die Stadt als größter und zugleich unschärfster Maßstab.
Bei der Wohnungssuche geht man nach einem ähnlichen Prinzip vor. Man überlegt sich, in welche Stadt man ziehen möchte, man sucht sich das Quartier oder den Bezirk aus und man überlegt sich, in welch einer Wohnung man leben möchte. Der Wohnraum wird somit in unterschiedlichen Maßstäben ausgewählt. Hierbei wird jedoch eine Ebene vergessen. Jene des Hauses wird meistens übersprungen. Dabei macht das direkte Umfeld, die direkten Nachbarn, welche sich sehr nahe an der Wohnung befinden, einen wesentlichen Anteil des Wohnraums aus. An diesem Punkt knüpft das Wohnprojekt Marianne an. Das Gebäude wird wie eine Wohnung gelesen. Dabei werden die wesentlichen Einheiten einer Wohnung auf das Gebäude skaliert.
Leuchtturmprojekt
Das ausgewählte Grundstück in Wien-Neu Marx ist Teil einer übergeordneten und wachsenden Struktur. Carina Franz, welche sich ebenfalls mit dem Thema der Skalierbarkeit auseinandersetzt, bearbeitet in ihrer Masterarbeit das gesamte Gebiet (wird in GAT in Kürze publiziert). Dabei nimmt das Projekt Marianne eine Leuchtturmfunktion für das Gebiet ein.
Skalierbarkeit
Die kleinste und gleichzeitig detaillierteste Einheit, die Wohnung, wird auf den nächst größeren Maßstab skaliert. Dabei werden die Funktionen etwas verschwommener dargestellt und lassen etwas mehr Interpretationsspielraum. Der Wohnungsgrundriss wird mit seinen Funktionen auf das Gebäude übertragen und zu Gemeinschaftsräumen umgewandelt. Durch Verbindung der Gemeinschaftsräume, welche vertikal über die Erschließungskerne und horizontal über Mittelgänge und Laubengänge erfolgt, ergeben sich unterschiedlichste Wegführungen durch das Gebäude. Dabei vermischen die Gemeinschaftsflächen mit den Erschließungsflächen und erzeugen dadurch spontan – Begegnungszonen.
Space for Everyone
Die Restfläche wird in drei Wohnbereiche aufgeteilt. In den Family Space, den Maker Space und den Hobby Space. In diesen drei Bereichen wird versucht, ähnliche Zielgruppen nachbarschaftlich zu vereinen. Der Family Space verfolgt das Ziel einer großen familiären Struktur. Der Maker Space spricht verstärkt jene Zielgruppen an, bei denen Arbeiten und Wohnen kaum getrennt wird. Beim Hobby Space definiert sich jene Zielgruppe, die nach einer Beschäftigung neben dem Alltag sucht. Diese drei Bereiche sind in weiterer Folge auch für die Organisation des Gebäudes wesentlich. Sie sollen keine Abgrenzungen darstellen, sondern vielmehr jedem Bewohner eine Zugehörigkeit und Verantwortung übermitteln.
Marianne
Marianne Hainisch, nach welcher die Gasse vor dem bebauten Grundstück benannt wurde, gilt gemeinhin als Begründerin der österreichischen Frauenbewegung. Genau diese Frauenbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts hat wesentlich zur Entstehung der heutigen Baugruppen beigetragen. Der Projektname Marianne trägt die revolutionären Gedanken der damaligen Zeit und vermittelt uns den Glauben, für seine Ziele zu kämpfen.