20/09/2019

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Emil Gruber zur Ausstellung Peggy Buth Vom Nutzen der Angst – zu sehen bis 17. November 2019, Die – So, 10:00 bis 17:00 Uhr in der Camera Austria, Graz

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20/09/2019

Peggy Buth (Mitte) und Reinhard Braun bei der Eröffnung (Foto: Emil Gruber)

Brachlandschaft Kinloch (Foto Peggy Buth)

Einweihung Wohnanlage 'Pruitt-Igoe' 1954 (Found Footage Peggy Bruth)

Wohnanlage 'Pruitt-Igoe' 1954 mit Kirche, die heute noch besteht. (Found Footage Peggy Bruth)

Fotoserie zu 'Kinloch' – Detail aus Ausstellungsansicht (Foto: Emil Gruber)

Banlieu Paris (Found Footage Peggy Bruth)

Wohnen in offenen Stadtlandschaften. Raum für sozial schwache Schichten. Eine Gesellschaft der gleichen Chancen. Miteinander statt Segregation. Das Ende des Rassismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden weltweit Projekte, die das Zusammenleben neu definieren sollten. Die Idee von „menschlicheren“ Städten erlebte in den 1950ern einen Aufschwung in den USA und in Westeuropa.
Vielen dieser Konstrukte fehlte die konsequente politische Unterstützung. Die Verantwortlichen entzogen sich der Verantwortung, erklärten achselzuckend die Aufbruchstimmung als gesellschaftsübergreifend inkompatibel. Bereits Mitte der 1960er begann, so manche sich selbst überlassene, gebaute Vision wortwörtlich zu bröckeln. Trotz Martin Luther Kings Marsch auf Washington, trotz der Bürgerrechtsbewegungen, die Utopie vom friedlichen Miteinander von schwarzer und weißer Gesellschaft platzte nicht nur in den USA. Wohnsiedlungen für die Zuwanderer nach Ende des Kolonialismus in französischen und britischen Großstädten wandelten ebenso langsam sich zu Orten der Desintegration um.
Dysfunktionale Flächen, ihr Enstehen und die Auswirkung auf die Gesellschaft stehen seit langer Zeit im Zentrum von Peggy Buths fotografischer Arbeit.
Vom Nutzen der Angst nimmt mit dem nordamerikanischen St. Louis und Paris zwei von vielen Städten her, um über Taktik und Kalkül bei Stadtentwicklung, in der nur mehr Anlagevermögen als Individualismus überbleibt, nachzudenken. Eine Entwicklung, die früher begann, als manche es denken.
Mitte 1950 sollte in St. Louis mit der Pruitt-Igoe Anlage ein integrativer Wohnraum für 2800 Personen geschaffen werden. Die Stadt bestand zur Hälfte aus schwarzer Bevölkerung. Bei Baubeginn war noch vorgesehen, den Bezug der 33 elfstöckigen Blöcke nach Rassen aufzuteilen. Ein Urteilsspruch des Obersten Gerichts unterband bei Fertigstellung dieses Vorhaben. Das Zusammenleben im vom späteren World Trade Center-Architekten Minoru Yamasaki geplanten und nach Wendell O. Pruitt, einem der ersten schwarzen US-Militärpiloten, und dem Kongressabgeordneten William Igoe benannten Komplex funktionierte von Beginn an nie. Die weißen Bewohner verließen bald die Gegend. Ein großer Teil der Wohnungen blieb leer. Die Stadtverantwort-lichen sahen zuerst zu und später weg. Soziale Randgruppen blieben über. In den 1970ern wohnten nur mehr wenige Menschen in den mittlerweile heruntergekommenen Objekten. 1972 wurden alle Gebäude unter großer medialer Beteiligung gesprengt. Versuche einer anderen Nutzung blieben in der Planungsphase. Ein Golfplatz scheiterte an den massiven, noch immer in der Erde steckenden, Fundamenten. Heute breitet sich auf den Flächen Brachland aus. Öffentliche Einrichtungen und andere Infrastruktur existieren nicht mehr.
Peggy Buth erforscht diese Verwerfungen berechtigt emotional. „Welche Geister rumoren noch?“ Die Bestandsaufnahme von dem was blieb, nimmt als Menetekel aktuelle neoliberalistische Landeroberungen und urbane Umformungen von Sozialem für alle hin zu Eigentum von wenigen vorweg. In einer Videoinstallation laufen Bilder von der Pruitt-Igoe Gebäude-Sprengung und weiteren spektakulären Dekonstruktionen großer Wohnkomplexe im Loop. Es sind schaurig faszinierende Feuerwerke, die jedes Mal auch zu einem Zuschauerspektakel wurden (und noch immer werden). Die Bevölkerung zückt freudig Kameras und Telefone, nimmt ihre eigene Verdrängung für das Familienalbum heim. Ein bildmächtiger Circus Maximus lenkt von politischem Versagen und Gleichgültigkeit ab.
Die Fotografin zerkleinert die großen Bilder, die Stereotype, mit denen uns boulevardeske Medien füttern: „No-Go-Areas“ , Bandenkriminalität, Drogendealer – Stadträume, die zu plakativen, exotischen, nur unter großer Gefahr erlebbaren Orten geworden sind. Bei Buth kommt dagegen die Bedrohung von oben. Angst und Scheitern sind ausbaufähige Sockel für den erfahrenen Spekulanten. Das Desinteresse an einem Miteinander nennt sich Risikokapital und Investitionsmöglichkeit. Geld will sich die Schwachen nicht leisten.
Immer wieder greift Buth auf Found Footage zurück und mischt es unter ihr eigenes Fotografie- und Filmmaterial. So tanzen ausgelassen lebende Geister in einem Festsaal. Die Protagonisten sind praktisch ausnahmslos schwarz. Der körnige, rotstichige Amateurfilm zeigt eines der regelmäßig stattfindenden Wiedersehenstreffen von ehemaligen Bewohnern von Kinloch. Die an Central St. Louis angrenzende Kleinstadt war einmal die älteste schwarze Gemeinde von Missouri. Rund 6000 Menschen wohnten in den 1950ern hier, heute sind es gerade noch ein paar hundert. Wegen der Einflugschneise des neuen internationalen Flughafens von St. Louis wurden Farmflächen umgewidmet, Wohnraum und Infrastruktur geräumt. Am Martin Luther King Boulevard, einstmals als Mainstreet das Symbol für den großen Traum des Zusammen-lebens, sind alle Geschäfte mit Brettern vernagelt, verfallen die Häuser. Auf einem Graffito wird von der Rückkehr Obamas geträumt.
Kalkuliertes Vakuum begleitete in Paris von Beginn an die Siedlungen für die Mitbürger aus den ehemaligen nordafrikanischen Kolonien. Die Banlieues gelten als hoffnungslose post-mortem-Bezirke, als Stadt in der Stadt, mit eigenen Gesetzen und Regeln. Ist das so? Wer sind diese Gestalten, die Buth nur schemenhaft in einer Diaprojektion an die Wand wirft? Als Juxtaposition das Rendering einer zukünftigen grünen und friedlichen Gated-Community-Enklaven-Idylle. Was sind die wahren Problemzonen in einer Stadt?

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