04/06/2024

Der Umgang vieler deutscher Städte mit der Insolvenz der Warenhaus-Kette Galeria Karstadt Kaufhof macht eines deutlich: Die bloße Vermeidung von Leerstand darf kein Selbstzweck sein. Symptomatisch dafür sind Notverkäufe an "Retter" wie die Modehaus-Kette Aachener, die mehrere Standorte übernahm, um kurze Zeit später selbst Insolvenz anzumelden. Jetzt stehen die Gebäude wieder leer und warten auf längerfristige Strategien. Zugleich häufen sich gescheiterte Zwischennutzungsprojekte, die mit klingenden Namen wie „Osnabrücker Ding“, „Lovecraft“, „Euphoria“ immer gleiche Mischnutzungsrezepte privater „Macher*innen“ und Kreativ-Agenturen zu vermarkten versuchen.

04/06/2024

Titelbild einer Ausgabe der Bürger-Nachrichten im Jahr 1977, herausgegeben von der Bürgerinitiative „Rettet Lübeck“. © Bürger-Nachrichten

Gerade für klein- bis mittelgroße Städte, die am stärksten von den Schließungen betroffen sind, sollte im Sinne gesellschaftlich produktiver Innenstädte das langfristige Ziel nicht einfach die möglichst rasche Wiederbefüllung der Gebäude sein. Stattdessen sollten die Kommunen sich den Zugriff auf die Gebäude sichern und ihre typologisch bedingte Eindimensionalität brechen. Denn Warenhäuser sind unabhängig von den Umständen auf die Maximierung ihres wirtschaftlichen Ertrags ausgerichtet.

„Letzte Schlacht“1 titelte Der Spiegel schon im Jahr 1980 in Bezug auf den Plan für ein Kaufhaus in Lübeck. Der Handelskonzern Horten hatte ein Grundstück direkt am Lübecker Holstentor erworben. „Nur an diesem Standort oder gar nicht in Lübeck“2, stand in einer offiziellen Bekanntmachung des Unternehmens. „Die Horten AG wollte mit der Kaufhausfront `so nah wie möglich an die Lauflinie des Kundenstroms` ran – nach der Maxime: `Der Kunde muß ins Haus fallen.`“3 Nicht zuletzt der geplante Abriss der historischen Holstenhalle sorgte für breiten Widerstand. Zehn Jahre lang wurden Verhandlungen um Baufluchtlinien, Traufhöhen und maximal zulässige Verkaufsflächen geführt. Mit Baugerüsten musste das vorgesehene Horten-Kaufhaus auf dem Grundstück umrissen und „mit Schildern wie `Hier Traufenhöhe` und `Hier Arkadenhöhe`“4 für Laien verständlich gemacht werden.

Die im Lauf ihrer Geschichte zunehmend maßstabslosen Neubauten der deutschen Warenhauskonzerne waren das Resultat einer Raumproduktion nach wirtschaftlichen Parametern: Lage, Fläche, Rendite. Sie sollten den Gewinn ihrer Eigentümer maximieren. Entsprechend folgten die wesentlichen Entwurfsentscheidungen diesem Nützlichkeitsprinzip; seine Übersetzung in den Raum äußerte sich in der Ausreizung bebaubarer Grundstücksflächen und deren zulässiger Stapelung. Zweckoptimierte Erschließungssysteme sollten die Menschenmengen möglichst ausdauernd entlang des Warensortiments führen. Die Gebäudehüllen dienten als abstrakte Grenzen in erster Linie der Sicherung der Waren gegen umsatzschädliche Einwirkungen und die riesigen Verkaufsflächen wurden vom Rest der Stadt isoliert.

„Die Stadt und die städtische Realität unterliegen dem Gebrauchswert“, heißt es bei Lefebvre, aber „der Tauschwert, die allgemeine Durchsetzung der Ware (…), unterwirft sich tendenziell die Stadt und die städtische Realität und zerstört die Stadt.“5 Gerade durch die im Alltag synonyme Verwendung der Begriffe „Gebrauch“ und „Nutzung“ wird dieser Gegensatz verschleiert. Nutzen heißt ‘Ertrag, Gewinn, Vorteil’6 und entfernt sich damit vom Gebrauch. Dessen Gegensatz ist der Verbrauch oder Konsum.7 „Nutzung“ und „Nützlichkeit“ sind bereits Begriffe der Verwertung, nicht der Notwendigkeit.8 

Auch der Rhetorik der Nach- und Zwischennutzung liegt das Missverständnis zugrunde, „Nutzung“ ließe sich von Gebäuden entkoppeln. Als könnten letztere irgendwie befüllt und nützlich gemacht werden. Das entspricht einer Logik, welche die Stadt auf ihre wirtschaftliche Verwertung reduziert. Gebäude sind aber nicht bloße Behälter, die das Zusammenleben von Menschen fassen, sondern eine grundlegende Bedingung unserer Gesellschaft. Durch ihren Bau und Gebrauch stellen Menschen Gesellschaft her. Im Nützlichkeitsdenken aber wird die Produktion von Raum ökonomischen Interessen unterworfen und ihrer emanzipatorischen Möglichkeiten beraubt.

Aus diesen Gründen sollte der Nutzungsbegriff durch eine Neuinterpretation des Gebrauchswerts von Stadt ersetzt werden. Dabei geht es nicht um eine generelle Herauslösung der Innenstädte aus Verwertungszwängen. Doch für die leerstehenden Kaufhäuser in zentralen Lagen bedarf es raumpolitischer und in Konsequenz architektonischer Ideen, die durch Umbau eine Rückgewinnung städtischer Öffentlichkeit initiieren. Mit den Mitteln der Architektur können den großvolumigen Gebäuden konsumfreie Flächen abgerungen, kann die Logik ihrer Erschließungssysteme und Fassaden aufgebrochen werden. Durch bauliche Eingriffe zur Öffnung, Teilung und Verdichtung können die Warenhäuser gesellschaftliche Vielfalt in die Innenstädte zurückbringen. So könnte die öffentliche Produktion von Raum wieder in ein vernünftiges Verhältnis zu dessen Verwertung kommen. Wo Städte aktiv eingreifen, sich die Vorkaufsrechte sichern oder selbst die leerstehenden Warenhäuser zurückkaufen, öffnen sich langfristige Perspektiven. Nach jahrelangem Leerstand erwarb etwa die Stadt Siegen den 1999 aufgelassenen Kaufhof im Zentrum ihrer Oberstadt. Sie baute ihn um zu Bibliothek, Stadtarchiv und Volkshochschule und etablierte dadurch über die letzten zwanzig Jahre einen wesentlichen kulturellen Treffpunkt in der Innenstadt.

Auch die Stadt Lübeck erwarb schlussendlich selbst das Grundstück am Holstentor. Die Verhandlungen um das geplante Kaufhaus in Lübeck waren nach über einem Jahrzehnt gescheitert. Horten zog sich 1985 zurück. Die Zurücksetzung der geplanten Gebäudeflucht sowie die Reduktion von Stockwerkszahl und Verkaufsfläche waren für den Kaufhauskonzern aus Rentabilitätsgründen inakzeptabel. Das Areal lag daraufhin brach. Ende der 90er Jahre wurde von einer Projektmanagement-Gesellschaft ein neuerlicher Versuch unternommen, die Fläche vor dem Holstentor mit einem Kaufhaus zu bebauen. Auch dieser Vorschlag scheiterte am Widerstand der Bevölkerung. Schließlich wurde von Seiten der Stadt der Beschluss gefasst, an diesem „Standort“ eine Grünanlage anzulegen und die historische Holstenhalle zur Musikhochschule umzubauen. Gerade die Tatsache, dass über drei Jahrzehnte verstreichen mussten, bis es zu dieser Entscheidung kam, verdeutlicht einmal mehr: Die Herstellung von öffentlichem Raum benötigt gesellschaftlichen Willen, aber auch Ausdauer und Zeit.

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1 „Letzte Schlacht“, in Spiegel Online (23/1980) https://www.spiegel.de/kultur/letzte-schlacht-a-7a326f48-0002-0001-0000-000014321827, Zugriff: 29.05.2024

2 Hans Meyer, „Horten am Holstentor“, in Archiv der Hansestadt Lübeck https://bekanntmachungen.luebeck.de/dokumente/d/753/inline Zugriff: 29.05.2024

3 „Letzte Schlacht“, in Spiegel Online (23/1980)

https://www.spiegel.de/kultur/letzte-schlacht-a-7a326f48-0002-0001-0000-000014321827, Zugriff: 29.05.2024

4 ebd.

5 Henri Lefebvre, Das Recht auf Stadt, Nautilus Flugschrift (Hamburg: Edition Nautilus, 2016),

6 DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, hrsg. v. d. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, www.dwds.de, Zugriff: 30.05.2024

7 Etwas brauchen meint ursprünglich etwas nötig zu haben, aber auch es zu genießen. Interessanterweise gibt es Nutzer, aber keine Gebraucher, nur Verbraucher.

8 Lefebvre nennt Genuss, Schönheit und die Annehmlichkeit der Begegnungsorte als Gebrauchswert der Stadt und ihrer Architektur. Ganz im Unterschied zum „Tauschwert, den Märkten und ihren Erfordernissen und Zwängen".

stadtaffe

www.marlows.de hat einen Topartikel von Wolfgang Bachmann zum Kaufhaus-Thema anlässlich der Signa-Pleiten gebracht: https://www.marlowes.de/chronisch-planlos/. --- Es ist kein Einzelfall, das Problem mit den leerstehenden Kaufhäusern in den Innenstädten. In Wuppertal gibt es Nachnutzungskonzepte eines Galeria-Kaufhof-Gebäudes durch eine städtische Schule. Eigentlich genial, doch Eltern kritisieren, dass sich die Kinder dann nicht mehr auf den Unterricht, sondern eher auf das Schaufenster des Mediamarkts gegenüber konzentrieren. Vielleicht müsste man dann den Unterricht realitätsnaher und besser gestalten, dass die Kinder gerne in die Schule gehen? Ein Problem der Architektur? https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/gesamtschule-im-kaufhof-in-w…

Mi. 12/06/2024 11:09 Permalink
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