Wozu noch Filmkolumnen?
Mit der digitalen Aufrüstung der Lichtspielhäuser, dem Streamen, dem Abspielen von Filmen auf allen möglichen Geräten – Tablets, Handys, Fernsehern – wurde das Kino zum nostalgischen Kulturgut. Und die Schließung durch die Lockdowns gibt ihm womöglich den Rest. Wozu dann noch Filmkolumnen? Das Gute daran ist, dass die als Kritik getarnte mediale Sternchenvergabe ebenfalls an Bedeutung verliert und Raum lässt für aktualitätsbefreite, grundsätzlichere Überlegungen.
Grundsätzliches
Es gibt Regisseure und Filme, an deren Kreativität, Sorgfalt und Kompetenz kein Zweifel besteht. Trotzdem (oder gerade deshalb) haben sie es schwer, vom Publikum akzeptiert zu werden. Es fehlt ihnen der Unterhaltungswert, sie sind keine feel good movies und oft sprengen sie die engen Grenzen ihres Genres. Sie sind „schwierig“; bieten dafür aber einen Reichtum an Ideen und Motiven, die ansonsten im Rahmen einer dramaturgischen Strategie ausgeblendet, zumindest reduziert werden.
Pelikanblut
von Katja Gebbe ist ein solches Beispiel für einen Film, der mit seiner Fülle ein gewisses Vertrauen in die Intelligenz des Publikums voraussetzt. Die ledige Pferdetrainerin Wiebke (großartig, Nina Hoss) fährt nach Polen, um für ihre neunjährige Adoptivtochter Nicolina die fünfjährige Raya (Katerina Lipovska womöglich noch großartiger) als Schwesterchen zu adoptieren. Dort sieht Wiebke das Wandbild eines Pelikanweibchens, das sich mit dem Schnabel die Brust geöffnet hat, um, wie erklärt wird, mit seinem Blut ihre toten Jungen wieder zum Leben zu erwecken. Die frühchristliche Metapher für die aufopfernde Liebe Christi nimmt nicht nur Wiebkes Probleme vorweg, religiöse bzw. mythische Motive zählen auch zum Standardrepertoire des Horrorfilmes. Tatsächlich entpuppt sich die süße, blonde Raya nach einigen Wochen als unheimliches, kindliches Monster, dessen Wutschreie stundenlang über dem Pferdehof hallen. Kinder, mit denen Raya alleingelassen wird, sind hinterher seltsam verstört, bald fürchtet sich die ältere Nicolina vor der kleineren Schwester. Und scheuen nicht auch die Pferde auf der Koppel? Die Natur selbst scheint durch die Anwesenheit des Bösen verstört.
Vom Horror- zum Dokumentar- zum Wissenschaftsfilm
Das Genre des Horrorfilms, plastisch wie kaum ein anderes, erlaubt Katja Gebbe unterschiedliche filmische Zugänge. Indem sie sich auf das Abrichten der Polizeipferde – Fluchttiere, die entgegen ihrer Natur weder vor Menschenansammlungen, Lärm oder Feuer scheuen dürfen – fokussiert, wird Pelikanblut zu einem sorgfältig gemachten Dokumentarfilm. Und als der Neurologe der Adoptivmutter das Verhalten Rayas erklärt, entwickelt sich fast ein Wissenschaftsfilm: Als die zweijährige Raya tagelang mit der toten Mutter eingeschlossen war, sogar in ihren Leichnam biss, um sie zu wecken, projizierte das Kind zum Selbstschutz seine Handlungen auf einen Dämon. Tatsächlich zeigen MR-Aufnahmen von Rayas Gehirn, dass der für Empathie zuständige Teil kaum vorhanden ist, das Trauma hat bei ihr sogar physiologische Spuren hinterlassen.
Sozialdrama, magische Praktiken
Als sich die Freunde wegen ihrer Adoptivtochter von Wiebke abwenden und der Kindergarten das unheimliche Kind ausschließt, entwickelt sich ein Sozialdrama. Die überforderte, alleinerziehende Wiebke versorgt und dressiert die Pferde mit Raya am Rücken, muss zu Aufputschmitteln greifen, um das durchzustehen, bricht aber rotz allem zusammen und verliert am Ende die Polizeistaffel als wichtigsten Kunden. Der Therapeut erklärt Wiebke, dass der Empathiemangel des Kindes daran liegt, dass es niemals an der Brust einer Mutter gelegen hat. Wiebke, außerstande das Kind aufzugeben, holt das heimlich nach und legt Raya zum Abscheu ihrer älteren Tochter, an die Brust. Nicolina fürchtete die Kleinere schon zuvor so, dass die Mutter Bewegungsmelder für die Nacht installieren musste. Rayas Dämon, lauert für sie völlig real an der Zimmerdecke und findet eine Entsprechung in den rot leuchtenden Sensoren des Bewegungsmelders. Ebenfalls hoch oben, findet Wiebke im Stall Fetische, die ihr alter Knecht als Abwehrzauber dort positioniert hat. Schon zuvor bei einem Jahrmarktsbesuch hat Wiebke erfahren, dass die Pferdeköpfe auf den Schiffen und Häusern der Germanen zur Abwehr böser Geister dienten. Die rationale Welt wird immer magischer, von den über die Koppel jagenden Pferden weiß man nicht mehr, ob sie Inbilder der Schönheit oder Boten des Schreckens sind. Für den vergeblichen Kampf gegen Rayas Dämon sucht Wiebke Hilfe bei einer modernen Hexe. Aber auch sie kann den Dämon nicht austreiben, da könnte nur schwarze Magie helfen, aber diese fordert ihrerseits einen hohen Preis. Der Kopf eines zu Tode gekommenen Pferdes wird heimlich im Wald aufgestellt, das Übel wird gebannt, die kleine Familie wird, wie es sich Wiebke erträumt hat, mit der kleinen Raya befreit.
Frau mit Vergangenheit
Aber Benedict, der Verehrer Wiebkes unter den Polizeireitern, wendet sich angeekelt von dem Zauber von der Frau ab. Der mächtige und dabei sensible Kerl war der einzige, der Wiebke beistand. So sehr sie sich über seine Aufmerksamkeiten freute, scheute sie doch vor jeder näheren Beziehung zurück. Ein Trauma? Wiebke hat eine Narbe unter dem rechten Auge, sie könnte von einem Mann stammen, oder auch von einem Pferd, das sie getreten hat. Regisseurin Gebbe bringt damit Elemente der Frau mit Geheimnis, ein romantisches Mistery a la Hitchcock ins Spiel. Handelt es sich um Wiebkes eigenes Trauma, um ihr geheimes Motiv, eine Familie zu gründen und bis zum körperlichen und finanziellen Ruin nicht von der zerstörerischen Raya abzulassen? Oder gründet ihr Kampf für das Kind – der Vorname Wiebke bedeutet „Kämpferin“ – auf dem Bibelwort, wonach über einen reuigen Sünder mehr Freude herrscht, als über 1000 Gerechte? Ob nun ein „hölzerner Heimatwestern“ oder „ziemlich störend mit seiner Hirnstoffwechsel- und Entwicklungspsychologie“: Pelikanblut bietet auch einen filmischen, mit vielen Motiven angereicherten Diskurs. Nur der völlig gelungene Trailer, der gradlinigen Horror verspricht, führt in die Irre.