Auf der Packung der Zigarettenmarke Gitanes schwebt eine Zigeunerin über den Buchstaben N und T. Auch in Marie Kreutzers Film über die Kaiserin Elisabeth wird viel geraucht, vor allem von Frauen und hinsichtlich der schwebenden Dekonstruktionen des „Sisi“-Mythos passt das Bild auf der Gitanes-Schachtel auch für CORSAGE. Da geht es erstens um die nicht besonders originelle Umdeutung von Romy Schneiders „Sissi“, die sich aus dem Gefängnis ihrer Rolle als Kaiserin und Schönheitsikone befreien will. Aber die Dekonstruktion einer Emanzipation wird weiter dekonstruiert. Einerseits durch knappe, gleichsam leitmotivische Szenen en miniature, die eine kalte Realität skizzieren, die ansonsten unter prachtvollem Tüll und Taft verschwindet. Und andererseits wird diese zweite Dekonstruktion durch die allmähliche Auflösung einer gewohnten Filmhandlung zusätzlich dekonstruiert.
CORSAGE könnte auch als Gespensterfilm durchgehen. Dass die opak-enigmatische Hauptfigur so distanziert ist, erschwert die Identifikation mit ihr. Dementsprechend hat sich die mediale Aufmerksamkeit auch mehr auf die Leistung der Hauptdarstellerin Vicky Krieps gerichtet, die „Elisabeth, die seltsame Frau“ beklemmend gut spielt und weniger auf den spröden Film. Mit CORSAGE ist der Regisseurin Marie Kreutzer, die bisher vor allem politisch korrekte Filme geliefert hat, jedenfalls ein unerwarteter Coup gelungen. Der Film hat es nach Cannes in die Reihe „un certain regard“ geschafft und wurde als österreichischer Beitrag für den Auslands Oscar nominiert.
Die Qualität von CORSAGE ist das Ergebnis derart vieler intelligenter Inszenierungseinfälle, dass man sich fragt, wem sonst noch der Verdienst an ihnen zukommt. Das beginnt schon mit dem Vorspann, in dem Vicky Krieps immer wieder verlangt, dass ihre Corsage „fester!“, „fester!“, geschnürt wird. Einfacher und nachdrücklicher ist die Quintessenz eines Filmes selten zu sehen gewesen. Auch dass sich Marie Kreutzer statt für strahlendes Schönbrunner Gelb für heruntergekommene Schlösser als Drehorte entschieden hat, ist historisch vermutlich falsch, aber für den Film stimmig. Ähnliches gilt für den abnehmbaren Backenbart des von Florian Teichtmeister vorzüglich gespielten Kaisers: Die Differenz zwischen Persona und Ego wird nur durch einen Handgriff getrennt. Die Kaiserin trägt auch in der Badewanne ein dünnes Hemd, deshalb verschlägt es dem Kinobesucher den Atem, wenn die großartige Vicky Krieps in diesem sexuell zurückhaltenden Film völlig unerwartet die Bettdecke zurückschlägt, um sich ihrem Mann splitternackt zu präsentieren.
Die soziale Kälte am Kaiserhof wird nebenbei aber eindrücklich gezeigt: Kaiserin und Kaiser fragen sich beispielsweise nach dem Vornamen einer Dienerin, kommen aber nicht auf die Idee, die vor ihnen Stehende selbst zu fragen. Ein andermal lehnt die Kaiserin die Bitte ihrer Hofdame Ida Ferenczy glattweg ab, sie aus ihren Diensten zu entlassen, und nimmt ihr damit die letzte Chance auf eine Ehe. Sie bringt ihre Hofdame dazu, Teile der kaiserlichen Rolle zu übernehmen, sich ihrer strikten Diät zu unterwerfen oder sich den gleichen Anker auf den Rücken tätowieren zu lassen. Je mehr Ida Ferenczy zum Avatar der Kaiserin wird, desto stärker verdichtet sich das Gespensterhafte des Filmes. CORSAGE mutiert von den Ausbruchsversuchen der Kaiserin, von der Flucht einer Frau vor Repräsentationspflichten und höfischen Ritualen zu einer unheimlichen Reise, die im Nirgendwo endet. Am Schluss suchen beide Frauen auf einem Schiff das Weite, bevor die Kaiserin mit einem kühnen Kopfsprung vom Schiffsbug für immer im Meer verschwindet. Marie Kreutzer verschiebt die Parameter ihrer Erzählung, während sie abläuft. Das allmähliche Changieren von einer K.u.K Vergangenheit in die Gegenwart, die immer gegenwärtigeren Kulissen, wirken dabei so virtuos wie verstörend.
Der Sissi-Stoff ist eine bewährte Folie, auf die sich aktuelle Sehnsüchte und Obsessionen projizieren lassen. Die „klassischen“ Sissi-Filme mit Romy Schneider transportierten kleinbürgerliche Familienideale als Heilmittel gegen die Schrecken des kurz zurückliegenden Weltkrieges. Von den unzähligen Versionen seither ist die Serie „The Empress“ bei Netflix die bislang neueste.
In CORSAGE bleibt Maria Kreutzer ihrer Vorliebe für Sozialkritik treu, allerdings ersetzt sie eingängige politische Korrektheit durch unterkühlte Szenen, die aus der Geschichte heraus ganz auf gegenwärtige Befindlichkeiten zielen. Die Monomanien der Kaiserin sind zu den Aktivitäten einer modernen Frau, der einstige Luxus gekrönter Häupter (weitgehend) zum Lebensstandard geworden: Der Anspruch von Elisabeth, noch mit 40 attraktiv zu sein und das Bild, das sie für die Öffentlichkeit darstellt, zu erhalten; ihre Fokussierung auf Mode bzw. aufwendige Kleidung; ihre selbstquälerische Diäten; die manische Flucht in den Sport, verbunden mit dem narzisstischen Willen, die Beste zu sein. Die lockere Vertrautheit von Elisabeth und Ludwig II. im Bett, ihre Konversation in unaufgeräumten Hallen, auch der Konsum von Kokain, alles Selbsterfahrungen, um dem Vorgegebenen zu entfliehen, erinnern sehr an das, was man heute Wohlstandsverwahrlosung nennt.
In „The Empress“ ist die Agenda von Netflix eine völlig andere. So effektvoll und pompös die Bilder sind, sie demonstrieren vor allem, w i e etwas, irgendetwas, publikumswirksam gefilmt werden muss. Die Bilder stellen sich sozusagen selbst aus, sie werden zu Zitaten einer leeren Medienkompetenz, mit der ein Zugang zu historisch Bekanntem – in diesem Fall kaiserlich-königliche Irrungen und Wirrungen – sperrangelweit geöffnet wird. Dabei folgen die üblichen Wechsel zwischen Einzelschicksal und Geschichte, individuellen und weltpolitischen Problemen schablonenhaft aufeinander und das junge, gesunde Kaiserpaar fungiert als Scharnier dazwischen. Netflix ist nicht das Ende. Auch die hochprämierte Regisseurin Frauke Finsterwalder arbeitet an einem Elisabethprojekt. Und auf der Frankfurter Buchmesse stellte die Erfolgsautorin Karen Duve eine literarische Biografie der Kaiserin vor … außerdem wochenlang die flächendeckende Berichterstattung über das Begräbnis der britischen Königin Elisabeth II. … Mehr Sisi war nie.