10/06/2022

Filmpalast – 27

ABTEIL NR. 6
Finnland 2021
Regie: Juho Kuosmanen
Farbe 
Länge: 112'

In unregelmäßigen Abständen erscheinen in der Kolumne Filmpalast Filmkritiken von Wilhelm Hengstler auf GAT.

10/06/2022

Filmstill "Abteil Nr. 6", Screenshot Redaktion GAT > https://www.polyfilm.at/film/abteil-nr-6/

ABTEIL NR. 6
Finnland 2021, Regie: Juho Kuosmanen, Farbe, Länge: 112'

Was haben der deutsche Medienkünstler Jochen Gerz und der Film „Abteil Nr. 6“ des finnischen Regisseurs Juho Kuosmanen gemeinsam? Jochen Gerz ist 16 Tage bei verhängten Fenstern im Transsibirischen Express gefahren. In „Abteil Nr. 6“ fährt die finnische Archäologiestudentin Laura mit der Transsibirischen von Petersburg zu den berühmten Petroglyphen nach Murmansk.

Es kann keine Rede davon sein, dass keine guten Filme mehr gemacht würden. Die überlebensgroßen, unvergesslichen Filme sind allerdings selten geworden. Der Kanon kränkelt, dafür gibt es viele „kleine“ Filme, deren präzise Sparsamkeit sie in die Nähe von Performances rückt. Jochen Gerz hat während seiner Reise jeden Tag die Füße auf eine neue Schiefertafel von 60 x 60 Zentimeter gestellt. In „Abteil Nr. 6“ ist die gebildete Lesbe Laura gezwungen ein sehr enges Abteil mit dem kahl geschorenen Minenarbeiter Ljoha zu teilen.  

„Abteil Nr. 6“ ist sehr entspannt inszeniert, nur der Anfang in der Wohnung von Lauras fabelhafter Freundin Irina erinnert ein bisschen an ein deutsches Fernsehspiel. Die unscheinbare Laura fühlt sich der großstädtischen Irina unterlegen. Als diese an dem gemeinsamen Trip nach Murmansk angeblich verhindert ist, muss Laura allein aufbrechen. Alsbald findet sie sich mit einem wodkatrinkenden, qualmenden Macho zusammengepfercht, der sein deftiges Menü vor ihr ausbreitet und sie gleich fragt ob sie ihm ihre Muschi verkaufen wolle. Der Regisseur Kuosmanen und sein Kameramann Jani-Petteri Passi bannen den Mief und die Enge des Zugabteils in trübe, hauptsächlich mit Handkamera gemachten Bilder, ohne einen tristen Realismus zu beschwören. 

Im Prinzip repräsentiert „Abteil Nr. 6“ zwei beliebte Genres: Im sogenannten „Buddyfilm“ müssen ungleiche, aber aufeinander angewiesene Gefährten lernen miteinander auszukommen. Und der Reisefilm bietet seinen Protagonisten die Chance sich entlang seiner Stationen zu entwickeln. Regisseur Kuosmanen enttäuscht die Freunde dieser Genres in keinem Augenblick, aber viel mehr als heftige Lacheffekte oder Sentimentalität interessiert ihn die echte oder vermeintliche Kluft zwischen Kulturen. 

Lauras Bitten nach einem Tausch ihres Abteils prallen an der großartigen Galina Petrowa als Zugbegleiterin ab, die sich als eine Art strenger Hohepriesterin der sozialen Gleichheit ihrer Reisenden annimmt.  

Während Ljoha seine Reisegefährtin zu allen möglichen Unterhaltungen animieren will, interessiert sich Laura nur für die Camcorderbilder von Irina und Petersburg. Aber im Lauf mehrerer, sehnsüchtiger Telefonate muss sich Laura eingestehen, dass Irina sie entsorgt hat. Ljoha wiederum ist über die Zurückweisung so verletzt, dass er Laura nicht einmal seine Adresse geben will. Trotzdem tröstet er Laura, nachdem ein schicker Tramp, den Laura gegen Ljoha stummes Missfallen in das gemeinsame Abteil eingeladen hat, mitsamt ihrer Kamera verschwindet. 

Nach diesem wortwörtlichen Bildverlust Lauras kommt ihr ursprüngliches, strahlendes Ich zum Vorschein und man fragt sich, wie man sie je für unscheinbar halten konnte. Juri Borissow trifft als kahl geschorener Macho genau die richtige Mischung aus Pragmatismus und Kindlichkeit. 

Murmansk stellt sich dann als Desaster heraus. Außerhalb der Saison findet sich niemand, der Laura zu den Petroglyphen bringen will: zu viel Schnee, zu weit, zu gefährlich. 

Ljoha hat sich verabschiedet, ohne Lauras Einladung mit ihm zu schlafen, anzunehmen, taucht dann aber mitten in der Nacht bei der gänzlich gestrandeten Laura auf. 

Auf seine pragmatische und informelle Weise organisiert er den ersehnten Trip, aber wird wenig von den Petroglyphen sehen. Die Felsen sind von einer Eisschicht überzogen, auf der Laura andauernd ausrutscht, trotzdem lacht sie, sooft es sie auf ihren Allerwertesten setzt. 

Der Regisseur Juho Kuosmanen löst gegen Ende seines Filmes die narrative Struktur seines Films immer weiter auf. Umtost vom Schneesturm fragen sich Laura und Ljoha ob sie nun sterben müssen und lachen dabei sogar. Auch die Umstände ihrer Rückkehr werden nicht gezeigt, was wieder an Jochen Gerz erinnert. Auch er löschte seine während der Fahrt gemachten Aufzeichnungen und stellte dann auf der „dokumenta 6“ nur 16 Stühle mit den mitgebrachten Schiefertafeln davor auf. Ob die Reise tatsächlich stattgefunden hat, blieb offen. Auch die Petroglyphen, zuvor prominent auf dem Buchcover gezeigt, sind unsichtbar geblieben. „Gelebte Zeit lässt sich nicht vorzeigen“ heißt es bei Gerz.

Während der Bahnfahrt fragt Ljoha einmal, was „Ich liebe dich“ auf Finnisch heißt. Laura leistet sich einen Witz und schreibt  statt dessen „I want to fuck you“. Beim letzten, hastigen Abschied reicht ihr Ljoha einen Zettel mit seiner zuvor verweigerten Adresse und Lauras Worten in das losfahrende Auto. Die Beiden sind, obwohl sie sich kein einziges Mal küssen und vielleicht nie mehr wiedersehen, eindeutig das coolste Liebespaar dieser Kinosaison. Es ist zu hoffen, dass man ihnen noch einmal in einem der besseren Kinos begegnet, die „Abteil Nr. 6“ wiederholen.

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