Es könnte der Plot eines Propagandafilms für die FPÖ sein: Ahmed, ein bis dato unauffälliger Schüler, radikalisiert sich unter dem Einfluss eines Imams, kritisiert die westliche Kleidung seiner Schwester, hält der Mutter ihren Alkoholkonsum vor und weigert sich am Ende, nicht nur seiner Lehrerin die Hand zu geben, sondern verübt auch ein Messerattentat auf sie. Während der Resozialisierung bleibt Ahmed weitgehend unerreichbar für seine durchaus verständnisvollen Betreuer, nur ein zufälliger Unfall löst das unbefriedigende Geschehen auf. Aber die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne meinen mit ihrem Film Young Ahmed, der 2019 in Cannes den Preis für die beste Regie gewonnen hat, klarerweise anderes, als die Spindoktoren der FPÖ.
Die Grazer Erstaufführung von Young Ahmed ist ab 18.9.2020 im Rahmen der Französischen Filmwochen im KIZ Royal zu sehen. Erweitert um drei weitere Dardennefilme – Der Junge mit dem Fahrrad (2011), Zwei Tage, eine Nacht (2014) und Das unbekannte Mädchen (2016) – kann man beinah von einer kleinen filmischen Sensation sprechen.
Jean-Pierre und Luc Dardenne gehören mit ihren Filmen, die sich mit seltener Konsequenz den sozialen Verwerfungen Europas und der in ihm lebenden prekären Existenzen widmen, zweifellos zu den bedeutendsten Filmregisseuren Europas. 1999 erhielten sie für Rosetta, genauso wie die junge Hauptdarstellerin Emilie Dequenne, in Cannes den Hauptpreis. Die zweite Goldene Palme bekamen sie 2005 für Der Sohn. Aber Young Ahmed ist von ihren insgesamt zwölf Spielfilmen vielleicht die verstörendste und am widersprüchlichsten aufgenommene Arbeit im Oevre der Dardenne. Gegen den Film mit Idir Ben Addi, der „wie ein junger Hannibal Lecter“ anmutet, wurde eingewendet, dass er entweder überhaupt nichts erkläre oder Terrorismus in anderen Filmen schon früher (und besser) abgehandelt worden sei.
Moderne Menschheitserzählungen
Feuilletonhafte Welterklärung ist allerdings nicht das Ziel der beiden Regisseure. Ihre Filme beginnen meist abrupt, die Zuseher werden erst mit den unruhigen Bildern einer Handkamera, oft von Rückenansichten, konfrontiert. Erst im weiteren Verlauf kristallisieren die scheinbar banalen Geschehnisse zu Menschheitserzählungen. Ohne ihren Antihelden irgendwie Grundsätzliches in den Mund zu legen, entwickeln die Dardenne in der tristen Alltäglichkeit ihre geradezu biblischen Themen: Ein Mädchen verrät den einzigen Freund, um dessen Arbeit zu bekommen, ein junger Mann verkauft sein neugeborenes Kind gegen den Willen der Mutter, ein Vater, dem der jugendliche Mörder seines Sohnes anvertraut wird, kämpft gegen sein Bedürfnis nach Rache.
Transzendente Solidarität
Ihren Anfängen als Dokumentarfilmer treu, richten die Dardenne ihren Kamerablick auf die ungeschminkten Menschen und trostlosen Stadtlandschaften einer postindustriellen Zivilisation. Dabei bewegen sich ihre Akteure durch die Niederungen ihres Lebens auf eine Katharsis zu. Praktisch jeder Dardennefilm endet mit einer Katharsis, die sich meist als Solidarität zeigt. Die Protagonisten entschließen sich nicht zu dieser Solidarität, sie werden von ihr als ein Ergebnis oft widerwilligen Mitfühlens eher überfallen.
Einflüsse
Diese Verbindung gesellschaftlicher Solidarität mit Transzendenz ist dem Werdegang des Regieduos zuzuschreiben. Jean-Pierre, der Ältere hatte als Schauspieler bei dem Poeten, Filmemacher, Dramatiker und Anarcho-Syndicalisten Armand Gatti studiert, der in der Royal Air Force gekämpft hatte und von de Gaulle einmal als „durchgeknallter Dichter“ bezeichnet wurde. Die Bücher Gattis tragen Titel wie Öffentlicher Gesang vor zwei elektrischen Stühlen oder Kleines Handbuch der Stadtguerilla. Nachdem auch Luc, der Philsophiestudent Jean-Pierre sich Gattis Einfluss ausgesetzt hatte, begannen die Brüder in einer Zementfabrik zu arbeiten. Mit dem Verdienst kauften sie eine Videoausrüstung, um über 500 Dokumentationen über die trostlosen Arbeiter in dem niedergegangen Industriegebiet von Seraing in Belgien zu drehen.
Der zweite Einfluss kommt von dem aus Litauen stammenden Emmanuel Levinas, geprägt durch Husserl, Heidegger und den Talmud. Der Philosophieprofessor an der Universität von Nanterre und der Pariser Sorbonne war mit seiner Frau nur knapp dem Holocaust entgangen und setzte bis zu seinem Tod 1995 keinen Fuß nach Deutschland. Der durchaus hermeneutische Levinas entwickelte eine Philosophie, die auf der Begegnung mit dem Anderen von Angesicht zu Angesicht gründete.
Die Filmemacher realisieren mit ihrer Arbeit die Lehren des Philosophen. Indem sie Großaufnahmen des Gesichtes sparsam einsetzen, gewinnt dieses ein neues, ungewohntes Gewicht. Das „Antlitz“ ist etwas, das auf die Idee des anderen im Betrachter verweist. Dieses „Antlitz“ stellt eine ethische Forderung, die aber nicht auf einen unmittelbaren Sinn hin entziffert werden kann.
Kinder und Jugendliche
Dass Ahmet, dieser Attentäter zwischen Kindheit und Jugend, so unberührt bleibt und in sich eingeschlossen verharrt, lässt Young Ahmed im Oevre der Dardenne gleichzeitig verstörend, herausfordernd und einzigartig wirken. Einzigartig ist aber auch die Fähigkeit der Regisseure, die in den jugendlichen Körpern steckende Energie, ihre scheinbar mühelosen Bewegungen, ihre unauffällig strahlende Eleganz in schmucklos perfekten Einstellungen zu feiern.
Fünf von acht ihrer in Cannes gezeigten Filme handeln von Jugendlichen und Kindern, oft zeigt sich das schon in dem Titel: Der Sohn, Das Kind, Der Junge mit dem Fahrrad, Young Ahmed. Alle Geschichten, sagen die Brüder Dardenne, begännen mit Vater und Mutter, und die Zukunft dieser Geschichten läge in den Kindern und den Kindern dieser Kinder. Der Tag, an dem die Menschen unfähig würden, Väter und Mütter zu sein, bedeute das Ende jeder Humanität. Dann würde der Affe zurückkommen, das Ruder übernehmen und Tiere würden den Planeten regieren… „Möchtest du sehen, wie der Affe regiert?“
Der Film Young Ahmet zeigt, wie der Film das Angsteinflößende und das Harmonische, die Hoffnung trotz unerklärlichen Terrors vereinen kann.
Sehr empfehlenswert.