06/12/2019

Filmpalast – 12
Filmkritik

Wilhelm Hengstler zu
The Irishman
Regie: Martin Scorsese
USA, 2019, 209 Min.

Martin Scorsese erzählt über mehrere Jahrzehnte die Geschichte des irischen Mobsters Frank Sheeran (Robert DeNiro).

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06/12/2019
©: Wilhelm Hengstler

Es beginnt mit einem cinematografischen Markenzeichen des Regisseurs. Wenn die Steadycam in einer mühelosen Choreografie durch ein Altersheim bis ganz nah an den 76jährigen Robert De Niro als Frank Sheeran alias The Irishman heranfährt, erinnert das an Die Zeit nach Mitternacht in der Scorsese zusammen mit seinem Kamermann Michael Ballhaus dieses Stilmittel erstmals vorgeführt hat. Wenn The Irishman im Altersheim seine Lebensgeschichte erzählt, muss die Maske  Robert De Niro kaum älter machen. Das gilt für Al Pacino als Jimmy Hoffa, Joe Pesci als Russel Bufalino und Harvey Keitel als Angelo Brunon, wie auch für ihren Regisseur Scorsese, sie sind alle über 75. Nicht nur das macht The Irishman zu einem Mafiafilm der besonderen Art. 
The Irishman lässt sich auch als Abschluss einer vierteiligen Auseinandersetzung mit dem Mafiagenre betrachten. Mean Streets (1973) war eine Milieustudie aus Little Italy, GoodFellas (1990) durchtränkt von Gewalt und Konsumgier und Casino (1995) zeigte die letalen Folgen einer hemmungslosen Hybris. The Irishman beinhaltet alle diese Motive, aber steter als in den vorhergehenden Filmen pocht in ihm auch ein Memento mori. Er ist ein Film über die Zeit und darüber, was diese den Schauspielern, dem Genre und wohl auch ihrem Publikum zufügt. Wenn Robert De Niro sich stundenlang seiner verstorbenen Gegner und Freunde erinnert, erinnert das eher an Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als Der Pate, eher an Marcel Proust als Mario Puzo. Tatsächlich basiert der Film auf Charles Brandts Buch I heard you paint houses, ein Euphemismus, der sich auf das Blut der Mordopfer bezieht, wenn es auf die Wände spritzt.
Frank Sheeran, der Ire aus Philadelphia, lernt als US-Infanterist an der italienischen Front nicht nur sein Italienisch, sondern auch das widerspruchslose Ausführen von Befehlen – etwa das Erschießen deutscher Kriegsgefangener. Sein Credo, das ihn später der Mafia gleich wie sein Italienisch empfehlen wird, lautet, dass sich Loyalität und widerspruchsloser Gehorsam am Ende lohnen. Nach dem Krieg arbeitet Frank Sheerhan als Lastkraftwagenfahrer und lernt zufällig den Mafioso Russel Bufalino (Pesci) kennen. Diese Begegnung an einer Tankstelle wird elegant als Rückblende in der lebenslangen Rückblende Frank Sheerans eingefügt, während er mit seinem Boss Russel unterwegs zu einem Treffen mit dem Gewerkschaftsführer Jimmy Hoffa ist. The Irishman hat erst den Mafiosi gestohlenes Fleisch verkauft, ist dann auf der Basis von Gefälligkeitsmorden selber Mafiamitglied geworden und hat es später mit Empfehlung von Bufalino bis zum Vertrauten Jimmy Hoffas gebracht, der ihn zum Gewerkschaftsfunktionär befördert. Dabei ist The Irishman kein Psychopath, unheimlich eher die völlig sadismusfreie Weise, mit der er seine Opfer erledigt. Angesichts der Normalität Sheerans fragt man sich,  ob die Mafiapraktiken nicht die verborgenen Aspekte einer Gesellschaft,  die nächtlichen Ansichten eines hierarchisch organisierten Fordismus sind. Frank Sheeran ist allenfalls ein Soziopath in einer pathologischen Gesellschaft.
Frank Sheerans Lebensgeschichte kreist in ihrem letzten Drittel – also gut eine Stunde lang – hauptsächlich um Jimmy Hoffa, die Politik der Kennedys, die Kubakrise und wie die Mafia sich an der Invasion in der Schweinebucht beteiligte, um ihre Casinos auf der Insel zurück zu bekommen. Hoffa, dem der Schauspieler Danny DeVito bereits 1992 einen Film mit Jack Nichols in der Titelrolle widmete, gehört zu den amerikanischen Populärmythen mit ihrer typischen Mischung aus Politik, Glamour, Geld, Verbrechen und Medien. Auch Don DeLillo, Klassiker der amerikanischen Politparanoia hat Hoffa mit Ein amerikanischer Thriller einen Roman gewidmet. The Irishman steht zwischen den zwei Männern, zwischen seinem Förderer Russel Bufalino und Jimmy Hoffa, der nach seinem Gefängnisaufenthalt wieder Präsident der Teamster werden will. Wie Hoffa mit seinem Leibwächter im geteilten Hotelzimmer vor dem Schlafengehen die Lage erörtert, gehört zu den am meisten anrührenden Szenen des Films. Aber Sheeran bleibt seinem Motto treu, befolgt den Befehl des Mafioso und erschießt den Freund. Dieser eine Mord und dazu die Abscheu der jüngsten seiner vier Töchter bringen ihn aus seinem Gleichgewicht. Dass die beiden Stars des New Hollywood Cinema gemeinsam auftreten ist eine der Sensationen von The Irishman.
Mit Ausnahme von Michael Mann`s Heat (und nicht einmal da begegnen sie einander) haben Al Pacino und Robert De Niro nie miteinander gespielt. Pacino brilliert als egomanischer Hoffa, gefangen in seinem Selbstbild, aufbrausend und großherzig zugleich. Das Spiel der meisten anderen ist dagegen auf den Kopf gestellt. Der unberechenbare, psychopathische Joe Pesci aus Casino spielt in The Irishman ganz ohne Gewaltausbrüche und Robert De Niro agiert statt mit der früheren athletischen Nervosität mit der Bedächtigkeit eines Handwerkers. Was die elektronische Verjüngung der Schauspieler anbelangt, die einen Großteil des Budgets von 150 Millionen verschlang, wäre der Aufwand nicht nötig gewesen. Die Lederjacke, in die De Niro seinen Körper zwängt, macht ihn nicht geschmeidiger und sein Gesicht wirkt nur insofern verjüngt, als er gerade aus der frischen Luft zu kommen scheint. Mag sein, dass es Scorsese weniger darum ging, dem Publikum einen verjüngten De Niro zu zeigen, als darum, den alten Frank Sheeran mit einer jüngeren Version seiner selbst zu konfrontieren. 
Scorsese und der Drehbuchautor Steven Zaillian gewinnen dem Mafiaslang insbesondere durch Wiederholungen komische, grausame, an konkrete Poesie erinnernde Dialoge ab. Sheerans Morde wirken wie nebenbei inszeniert, geschossen wird im Vorbeigehen aus kurzer Distanz. Alles geht sehr schnell, aber dabei ungemein präzis, kein Detail fehlt, jedes Detail stimmt. Robert Robertson bluesiger, aus alten Songs zusammengesuchter Soundtrack und der unauffällig-virtuose Schnitt von Thelma Schoonmaker treiben den Film stetig voran und lassen keinen Augenblick daran denken, dass er über drei Stunden lang ist. Das Ergebnis ist ein Alterswerk, das Scorsese zugleich in Bestform zeigt. Aber auch für ihn war die Finanzierung von The Irishman schwierig.

Die Leute von Netflix, gern für mitschuldig am Untergang der klassischen Filmkultur gehalten, haben ein glückliches Händchen bei ausgefallenen Filmprojekten. Roma, der s/w-Film von Alfonso Cuaron über die Kindheitserinnerungen des Regisseurs in Mexico City, gewann drei Oscars und  die Laienschauspielerin Yalitza Aparicio Martinez wurde prompt zum Star. Und nun The Irishman: Filme, die womöglich Bausteine eines neu entstehenden Filmkanons sind.

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