19/12/2023

GAT-Autor Johann Gallis erinnert an den kürzlich verstorbenen Architekten Herwig Udo Graf, Hauptvertreter der burgenländischen Architektur nach 1945.

19/12/2023

Herwig Udo Graf in seinem Büro 1976, Architekturzentrum Wien, Sammlung – Nachlass Herwig Udo Graf

©: Az W Architekturzentrum Wien

Volksschule Mönchhof, Architekt Herwig Udo Graf, Architekturzentrum Wien, Sammlung – Nachlass Herwig Udo Graf

©: Az W Architekturzentrum Wien

Kulturzentrum Mattersburg Blick von Süden mit Arena, Architekt Herwig Udo Graf, Architekturzentrum Wien, Sammlung – Nachlass Herwig Udo Graf

©: Az W Architekturzentrum Wien

Sunset Club Diskothek Krail, Oberpullendorf, Foto einer Ansichtskarte, Architekt Herwig Udo Graf, Archiv Johann Gallis

©: Johann Gallis

Planzeichnungen Seehütte Graf in Rust am Neusiedlersee, Architekt Herwig Udo Graf, Archiv Herwig Udo Graf

Seine Bauten gelten als Manifestationen des modernen Burgenlandes: Am 12. Dezember 2023, ist der Architekt Herwig Udo Graf im 84. Lebensjahr in Eisenstadt verstorben. Ein Hauptvertreter der burgenländischen Architektur nach 1945 ist tot.

Herwig Udo Graf, 1940 in Wiener Neustadt geboren, studierte 1958–1964 an der Technischen Hochschule Wien bei zentralen Persönlichkeiten der österreichischen Architektur wie Erich Boltenstern, Karl Schwanzer, Rudolf Wurzer oder Karl Kupsky. Noch in seiner Studienzeit absolvierte Graf im Jahr 1962 einen für ihn sehr prägenden mehrmonatigen Aufenthalt im Büro des finnischen Architekten Aarne Ehojoki. Nach Abschluss des Studiums und Tätigkeit in mehreren Wiener Architekturbüros kehrte Graf 1965 ins Burgenland zurück und wurde in Mattersburg Mitarbeiter bei dem in der Region etablierten Architekten Julius Kappel (1904–1993). Von hier aus startete er – vor allem durch zahlreiche Wettbewerbsgewinne – eine beispielhafte Karriere in einem von Modernisierungsschüben und Aufbruchsstimmung geprägten Burgenland der Ära Theodor Kery. In den 1970er-Jahren zählte das Büro Graf – neben jenem seines Kollegen Matthias Szauer – zum meistbeschäftigten des Bundeslandes.

Bauen für das moderne Burgenland

Grafs mehr als 300 Bauten und Projekte umfassendes Werk hat einen Schwerpunkt im öffentlichen Sektor, hier umfasst es nahezu alle Typologien – vom Kulturzentrum zum Schulbau, vom Gemeindeamt  zum Verwaltungsbau. Bei diesen Bauaufgaben setzte er in architektonischer, aber auch typologischer Hinsicht oftmals neue Maßstäbe im Land und brach bestehende Konventionen. So zeichnete Graf für die erste Hallenschule im Burgenland, die Hauptschule Oberwart, verantwortlich und plante mit dem städtischen Kindergarten in Mattersburg einen der innovativsten Kindergartenbauten der späten 1960er-Jahre – ebenfalls gruppiert um eine zentrale Halle.

Besondere Bedeutung erlangten Graf und Matthias Szauer als Hauptvertreter des „Burgenländischen Brutalismus“. Das Bauen mit Sichtbeton, die plastische, skulpturale und zugleich feingliedrige Verwendung dieses Baustoffes beschäftigte Graf seit den späten 1960er-Jahren und entwickelte sich – oftmals in Kombination mit Fenstern aus edlem Mahagoni – zu seinem Markenzeichen. Fast schon zu Skulpturen gesteigerte Details wie Wasserspeier oder Vordächer verliehen den Gebäuden einzigartige Gestalt und entsprachen der Suche nach einer neuen baulichen Identität auf Ebene der Landespolitik.

Trotz seines Schwerpunkts auf öffentliche Bauten, umfasst Grafs Oeuvre auch zahlreiche Bauten für den Fremdenverkehr, die Gastronomie – er war seit 1973 Konsulent der Bauberatungsstelle des WIFI Eisenstadt – und im privaten Bereich, wo er mit einer Reihe exzellenter Interieurs einzigartige Zeugnisse des gehobenen Wohnens der 1970er-Jahre im Burgenland realisiere. Nicht zuletzt sticht seine eigene Wohnung in Oberwart hervor, bei der er einen ungenutzten Dachraum in eine differenziert gegliederte Großwohnung mit offenem Kamin, Schwimmbad und Dachgarten verwandelte.

Höhepunkt des Burgenländischen Brutalismus

Mit dem in den Jahren 1973 bis 1976 nach Grafs Plänen errichteten Kulturzentrum Mattersburg, dem ersten der von Gerald Mader initiierten, in Österreich einzigartigen Kulturzentren im ländlichen Raum, schuf er das paradigmatische Gebäude eines kulturpolitisches Pilotprojekts, in dem sich die landesweite Aufbruchsstimmung unter Kery, Sinowatz, Mader baulich manifestierte. Mit dem „KUZ“ erreichte der „Burgenländische Brutalismus“ seinen Höhepunkt.

Sowohl in programmatischer als auch architektonischer Hinsicht schuf Graf einen Gesamtkomplex – der zudem eine Hauptschule und die erste Dreifachsporthalle des Bundeslandes aufnahm – in dem sich seine bei zahlreichen Bauten erprobten Erfahrungen und architektonischen Modi verdichteten, steigerten und zu einem einzigartigen Ganzen vereinigten: durch sein Interesse an der plastischen, feingliedrigen Durchbildung der Baukörper, seine Fähigkeit, die Volumen in die Landschaft zu integrieren, ja, sie regelrecht aus dieser herauswachsen zu lassen, nicht zuletzt sein Talent, abwechslungsreiche, flexible Raumfolgen mit zahlreichen Attributen der Wohnarchitektur der Zeit auszustatten (offener Kamin, Sitzgruppen, Betonung der textilen Komponente, der massive Einsatz von Holz sowie der Leitfarbe Orange), schuf Graf eine neue Typologie und brachte dabei eine gehobene Wohnatmosphäre in ein öffentliches Gebäude. Letzteres stellt ein Charakteristikum des „Burgenländischen Brutalismus“ dar: in einer „rauen Hülle“ verbirgt sich ein „wohnliches Inneres“, was auf den ersten Blick als Gegensatz wirkt, wird zum komplementären Zusammenspiel.

Pionier des Holzbaus am Neusiedlersee

Neben seinen schalreinen Sichtbetonbauten zeigt sich Grafs Innovationsgeist und Experimentierfreudigkeit auch in seine zahlreichen Holzbauten am Neusiedlersee, die einen weiteren Schwerpunkt des vielseitigen Werkes bilden.

Es war vor allem die Form des Nurdachhauses in Holzbauweise, die er in unterschiedlichen Maßstäben für diesen sensiblen Landschaftsbereich adäquat erachtete. Auch hier trafen bewusste Bezugnahmen auf internationale Tendenzen – das Nurdachhaus war eine in Ost- und Westeuropa weitverbreitete Ferienhaustypologie der Zeit –, die Graf geschickt mit den lokalen Materialien Holz und Schilf zu einem neuen Ganzen zu vereinen und mit einer exquisiten, am Puls der Zeit gehaltenen, eigens entworfenen Einrichtung zu komplettieren wusste. Dies, ohne im Geringsten in historisierende Verlegenheitslösungen zu verfallen, wie viele Planer in den folgenden Jahren der Postmoderne.

Ausgehend von seiner eigenen Seehütte – der „Urhütte“ – in Rust (1968), entstanden in der Form von Nurdachhäusern weiters das Seerestaurant Breitenbrunn (1969), eine Ikone der Fremdenverkehrsarchitektur, mit der das Burgenland jahrelang touristisch beworben wurde, die Feriensiedlung „Romantika“ in Rust (1969) sowie zahlreiche private und öffentliche Folgebauten.

Wiederentdeckung und Neubewertung

Nachdem die großen öffentlichen Bauoffensiven im Burgenland Anfang der 1980er-Jahre zu Ende gegangen waren, zog sich Graf, der bis in die 2000er-Jahre sein Architekturbüro betrieb, vor allem auf das Feld des sozialen Wohnbaus zurück. Sein hochqualitatives und vielschichtiges Frühwerk geriet – nicht zuletzt aufgrund eines ambivalenten Rezeptionsprozesses im Land – in Vergessenheit. Erst durch die Debatte über die Zukunft des Kulturzentrums Mattersburg setzte ab 2014 ein längst überfälliger Diskurs über den Umgang mit den Bauten der Nachkriegsmoderne und des Brutalismus ein, der weit über das Burgenland hinaus ging.

Obwohl – nach intensiver Auseinandersetzung mit Grafs ikonischem Mattersburger Kulturzentrum, die mithin zu einer Teilunterschutzstellung durch das Bundesdenkmalamt führte – nur wenige Teile der Fassaden kulissenartig erhalten blieben, führte gerade diese Diskussion zu einem Umdenken und einer Neubewertung der Bauten dieser für das Burgenland so entscheidenden und prägenden Zeit: Im Jahr 2018 wurde vom Bundesdenkmalamt eine umfassende Inventarisierung der Nachkriegsarchitektur in Auftrag gegeben, in der Folge eine Reihe an Objekten unter Schutz gestellt. Heute stehen u.a. die von Herwig Udo Graf geplante ehemalige „Sauerbrunner Sparkasse“ in Mattersburg (1970–1972), die Leichenhalle Kaisersdorf (1972-1975) und die Volksschule Strem (1968–1973) unter Denkmalschutz. Ein Unterschutzstellungsverfahren für das Kulturzentrum Oberschützen (1977–1982) ist im Gange.

Das umfangreiche Archiv von Herwig Udo Graf befindet sich seit 2017 in der Sammlung des Architekturzentrum Wien (Az W). Dokumente von Grafs Kulturzentrum Mattersburg sind in der neuen Schausammlung des Architekturzentrums „Hot Questions – Cold Storage“ des Az W im Wiener Museumsquartier zu sehen. Der von Graf maßgeblich geprägte „Burgenländische Brutalismus“ ist mittlerweile fester Bestandteil des Kanons der österreichischen Architekturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zählt somit zum vielschichtigen baukulturellen Erbe der damals noch jungen Zweiten Republik. Graf selbst konnte diese beginnende Wiederentdeckung und Neubewertung noch miterleben.

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