Bereits über ein Jahr liegt die UN-Klimakonferenz in Paris zurück, im Rahmen derer das Ziel formuliert wurde, die Begrenzung der globalen Erwärmung von 2° C auf möglichst 1,5° C zu reduzieren. Der Gebäudesektor wäre dabei prädestiniert, einen überproportionalen Beitrag zu leisten. Denn Technologien und Lösungen ermöglichen in der Errichtung, Sanierung sowie im Betrieb von Gebäuden bereits drastische Reduktionen des CO2-Austoßes. Ob dies im Widerspruch zur Ästhetik eines Gebäudes steht und welche Faktoren neben der Verwendung besagter Technologien zu einer Architektur der Klimaziele beitragen können, diskutierten am 14. März 2017 ExpertInnen aus Praxis und Theorie.
Stefan Schleicher, Professor an der Universität Graz und Konsulent am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung, eröffnete den Abend mit einem Impulsvortrag, in dem er insbesondere auf den Konnex zwischen Klima und Technik einging. Er sei überzeugt, dass sich Energiesysteme in Kürze radikal verändern werden. Daher sei eine „I-Strategie“ erforderlich, die aus Innovation, Inversion und Integration zusammengesetzt sei: Im Sinne der Innovation würden zahlreiche disruptive Technologien auf uns zukommen. Unter einer Inversion versteht Schleicher wiederum ein Umdenken – es solle nicht mehr danach gefragt werden, woher Energie kommt, sondern vielmehr, wofür diese benötigt werde. Eindeutig sei, dass intensive Maßnahmen für Energieeffizienz zu setzen sind. Im Sinne einer Integration argumentierte Schleicher, dass mehr in Systemen gedacht werden müsse, weniger in einzelnen Elementen. Hinsichtlich des Gebäudebereichs stellte er in Aussicht, dass die gleiche Energiedienstleistung mit einem Drittel des Energieaufkommens zu erbringen sei und durch die Veränderung des Energie-Mixes (mehr erneuerbare Energien) unter Ausnutzung des Einsparungspotenzials Emissionswerte um mehr als 90 Prozent reduziert werden könnten und müssten, um vorgegebene Klimaziele bis 2050 zu erreichen.
Unter der Moderation der Architekturpublizistin Isabella Marboe diskutierten anschließend Peter Bauer, Otto Kapfinger, Elsa Prochazka, Georg Reinberg sowie Simon Speigner über Faktoren, die einer Architektur der Klimaziele zugrunde liegen könnten.
Architekt Georg Reinberg startete mit einem Plädoyer für eine Architektur, die aus energetischer Effektivität eine neue Form der Ästhetik entwickelt. Die Aufgabe von ArchitektInnen sei es, stets auf Herausforderungen ihrer Zeit zu reagieren und diese in Architektur umzusetzen. Die Qualität von Architektur werde durch das Aufzeigen von Möglichkeiten geschaffen. Was unserer Zukunft nicht zuträglich sei, könne dementsprechend auch nicht als schön bezeichnet werden.
Architektin Elsa Prochazka relativierte Reinbergs Argumentation für eine neue Ästhetik, räumte jedoch ein, dass ästhetisches Empfinden immer zeitgebunden sei. Bei Gebäuden solle jedoch nicht ausschließlich ihre Isolierung diskutiert, sondern vielmehr die Isolation der Gebäude im Gesamtzusammenhang betrachtet und vermieden werden. Sie bekenne sich dazu, dass Klimaziele in die Praxis der Architektur einfließen müssen. Außer den energetischen Maßnahmen sieht sie ebenso Potenzial bei neuen Nutzungsstrategien und -synergien. Auch Themen wie Materialeinsatz, Vorfertigung on demand und Baustellenlogistik würde man stärker entwickeln müssen. Innerhalb eines zunehmend globalen Betrachtungsradius sollten auch lokale Ressourcen analysiert und entwickelt werden.
Der Architekturtheoretiker und -publizist Otto Kapfinger schloss mit Fragen auf einer Metaebene an: Sind die Paradigmen des Modernismus zu überdenken? Einiges, was dieser gebracht habe, sei nicht mehr haltbar, wie z.B. die totale Funktionstrennung oder die Bevorzugung von maximaler Transparenz der Gebäude als Zeichen von Demokratie. Funktionalität sei oft von Autos, Schiffen oder Flugzeugen abgeleitet worden, dadurch wären nachhaltige Qualitäten der Architektur verloren gegangen. Dies sei aber nicht nur in Bezug auf die Trennung von Funktionen problematisch, sondern insbesondere auch hinsichtlich verwendeter Materialien. „Wir haben verlernt, mit dem zu arbeiten, was vor Ort vorhanden ist, etwa dem Lehm als Baustoff“, so Kapfinger.
Der Architekt Simon Speigner knüpfte an das Thema Material an: Ein Holzhaus wachse in zwei Sekunden nach, gab er zu bedenken. Durch das Ausnutzen des natürlichen Kreislaufs von Materialien werde Raum „von einer Immobilie zur Mobilie“. ArchitektInnen seien vor allem hinsichtlich der Zusammenarbeit, dem Schaffen von Mehrwert und der integralen Planung gefordert. Speigner zeigte sich zugleich optimistisch: Das Bewusstsein für nachhaltiges Bauen sei bereits da, es müsse nur noch stärker durchdringen. Außerdem sehe er einen Aufschwung für das Bauen mit Holz kommen.
Ähnlich argumentierte auch Peter Bauer, Ingenieurkonsulent für Bauingenieurwesen. Er wolle die spezifische Materialdebatte hintanstellen und vielmehr das Problem des Recycelns von Gebäuden fokussieren: Rund 70 % des Abfalls in Österreich würden im Bereich der Gebäude entstehen, 50 % bedingt durch den Aushub. Es sei nicht tragbar, dass für den Rückbau und die Wiederverwendung von Gebäuden planerisch noch nicht vorgesorgt werde, wie dies in der Grundanforderung 7 der europäischen Bauproduktenverordnung bereits vorgeschrieben ist. Noch nachhaltiger wäre es allerdings, Gebäude so zu bauen, dass deren Qualitäten die Menschen gerne darin leben lassen, sie somit als wertvoll eingestuft würden und dauerhaft in Betrieb bleiben. Wie diese unterschiedlichen Qualitäten schneller geschaffen werden könnten, sei für ihn einfach zu beantworten: Durch Baukultur, die ins Bewusstsein gerückt werden muss. Dazu gehöre aber auch, Grenzen auszuloten. An Grenzen zu gehen, heiße aber auch, Scheitern zu können. Und für solche Experimente – die wesentlich zum Erkunden neuer Möglichkeiten seien – müsse auch Raum geschaffen werden, z.B. in einer IBA. Dies bejahte auch Elsa Prochazka: Wir seien befangen von „more of the same“. Hier sei ein weiteres wesentliches Problem nachhaltiger Architektur und interdisziplinären Agierens verankert: Die Übernormierung der rechtlichen Rahmenbedingungen, die keine Experimente zulasse. Geldmittel und politisches Kommitment wären dafür notwendig.
Darüber, dass Architektur allerdings nicht alleine für große Schritte in Richtung der Klimaziele verantwortlich sei, waren sich alle DiskutantInnen einig. Vielmehr sei Architektur nur ein Rädchen innerhalb der Strukturen von Verkehrsplanung, Raumplanung, Stadtentwicklung, Politik und Wirtschaft. Gleichzeitig zeigte die Breite der angeschnittenen Themen, wie vielfältig das Potenzial der Weiterentwicklung einer Architektur der Klimaziele, ihrer Ästhetik, dem Begriff von Qualität und dem Kreislauf von Materialien ist. „Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern“, zitierte Otto Kapfinger in diesem Sinne den italienischen Dichter Giuseppe Tomasi di Lampedusa.