28/05/2024

„Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Dieses geflügelte Wort begleitet die Menschheit seit der Antike und stammt angeblich von Sokrates. Was im ersten Moment wie eine Aussage aus (falscher) Bescheidenheit anmutet, entfaltet sich erst bei näherer Betrachtung als pulsierendes Universum aus Wissen und Unwissen – und wo das Universum beginnt, kann Gott und der Glaube nicht fehlen. 

Zu Themen, die die Gesellschaft aktuell bewegen. Jeden 4. Dienstag im Monat.

28/05/2024

ohne Titel

©: Severin Hirsch

„Wer sich zurückhält, etwas von sich selbst einzubringen, wer sich weigert, den Text zu beackern, zu befruchten, der liest nicht.“ (Sarah Kofman, Derrida lesen. Wien 1987. S. 59.)

.„Ich schäme mich nun, meine Athener, euch die Wahrheit zu sagen – gleichwohl muss ich sie aussprechen: Es fehlte nämlich nicht viel, dass alle Anwesenden besser über deren Schöpfungen hätten sprechen können als diejenigen, die sie selber geschaffen haben. Ich erkannte nun wiederum auch (au kai) bei den Dichtern in kurzer Zeit, dass sie nicht wissend das geschaffen hatten, was sie schufen, sondern aufgrund von Veranlagung und Begeisterung […]. Und zugleich merkte ich, dass sie glaubten, infolge ihrer Dichtkunst auch hinsichtlich der anderen Dinge zu den weisesten Menschen zu gehören, was sie aber nicht waren. […] Schließlich ging ich nun zu den Handwerkern [und bildenden Künstlern]; ich war mir ja bewusst, so gut wie nichts zu wissen. Von ihnen aber wusste ich, dass sich unter ihnen Leute finden würden, die viel Achtbares wissen. […] Dadurch, dass sie eine Kunst gut [im instrumentellen Sinne] ausübten, glaubte jeder von ihnen, zusätzlich hinsichtlich der wichtigsten Dinge (tamegista) überaus weise zu sein. Und diese Anmaßung ihrerseits, so schien mir, verdunkelte jenes Wissen. Daher musste ich mich selbst im Sinne des Orakels fragen, ob es besser sei, so zu sein, wie ich bin, weder im Besitz ihres Wissens noch ihrer Unwissenheit, statt wie sie wissend und unwissend. Und ich antwortete mir und dem Orakel, dass es besser für mich sei, so zu bleiben, wie ich bin.“ (Platon, Apologie des Sokrates. Neu übersetzt und kommentiert von Rafael Ferber. München 2019. S. 23ff.)

„Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche.“ (F.W. Bernstein)

Scio nescio. Ich weiß, dass ich nicht(s) weiß. Angeblich stammt dieser Satz von Sokrates, belegt ist er in dieser Form allerdings nicht. Und in dieser Form wäre der Satz ja eigentlich ein Paradoxon, da bereits das Wissen um das eigene Nichtwissen eine Form des Wissens ist. Im ersten Buch der Academica beschreibt Cicero die sokratische Diskussionsweise derart, dass Sokrates behaupte, nur eins zu wissen, nämlich nichts zu wissen, und dadurch den anderen Diskutierenden überlegen sei, die glauben zu wissen, aber deren Wissen einer sorgfältigen und umfassenden Prüfung nicht standhält und somit als Unwissen entlarvt wird. Das Unwissen treibt sein Unwesen. Damals wie heute. Nur die skeptische Haltung gegenüber vermeintlich Wissenden ist proportional zu den wachsenden Erkenntnissen und dem wissenschaftlichen Fortschritt scheinbar geschrumpft.

Wissen und Unwissen gehen Hand in Hand. Jede Antwort wirft neue Fragen auf. Je mehr ich weiß, desto mehr erkenne ich, dass ich nichts weiß, soll Albert Einstein den Sokrates zugeschriebenen Satz modifiziert haben. Vermutlich auch in dessen Sinne, da neues Wissen auch neues Unwissen mit sich bringt. Allen Besserwissenden sei vor Augen gehalten: nur wer nichts weiß, hat auch keine Wissenslücken. Deshalb scheint die Angst vor dem Unwissen bei vielen auch die Aneignung von Wissen zu blockieren. Wer nichts wissen will, muss alles gleich vergessen können, darf nichts hinterfragen, nichts im Gedächtnis behalten und keine Erfahrungen machen. Dann bleibt nur mehr die reine Wahrnehmung, unsere Instinkte und der Glaube, das blinde Vertrauen unser Schicksal einer wohlwollenden, umsichtigen Führung in die Hände zu legen. Also frei nach Martin Puntigam: wer nichts weiß, muss alles glauben. Und zum Glauben gibt es die Kirche. Wir haben die Wahl und das heuer gleich mehrmals. Stichwort EU-Wahl, Parlamentswahl, Landtagswahl.

„Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde . Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Amen.“

Ich glaube nicht daran.

Ich glaube aber auch nicht an die Idee einer „objektiven“ Wissenschaftlichkeit. Aus den Humanwissenschaften sollte der Begriff „Wissenschaftlichkeit“ überhaupt ausgeklammert werden, da sich hier die Frage stellt, ob Wissen das Entscheidende ist. Wir jonglieren wie Clowns in einem Zirkus mit den Ideen - unsere Spielobjekte - und verbergen hinter lachenden Masken unsere skeptischen Gesichter. Positive Wissenschaften. Vor allem in den Humanwissenschaften sollte der Mensch im Blickfeld stehen und nicht zugunsten einer chimärischen Objektivität aus den Augen verloren werden. Ich glaube nicht, dass der Mensch mit einer Ration Verstand ausgestattet wurde, um im Denken mit der Realität/die Realität umgehen zu können. Wir sind auch „Lebe“-Wesen. Das Be-Greifen ist in erster Linie auch Hand-lung. Das Denken ist unser Überlebenstrieb, unser Lebensinstinkt. Ohne Denken wären wir nicht überlebensfähig. Wie auch ohne den Schutz der Gemeinschaft nicht. Wir bedürfen der Gesellschaft und Gesellschaft bedeutet Konvention, konventionalisiertes Zusammenleben, symbolische Gemeinschaft. Jede Wissenschaft ist Konvention, die unser Überleben sichern soll, jedes Wissenschaftssystem ist beliebig und zufällig, willkürlich, sekundär und unterliegt der Bewährung für und durch die Gesellschaft. Das Primäre heißt Konvention. Auch die Naturwissenschaften versuchen durch Zeichensysteme die Realität zu umgehen, abzubilden, nachzuahmen. Die Ökonomie des Überlebens (heißt Wissenschaft). Es geht immer ums Überleben. Im Falle des Menschen sogar für alle. Ausnahmslos alle. Bis hin zur künstlichen Reproduktion allen Lebens. Bis wir das Leben nur mehr nachahmen. Bis das mimetische Leben den Platz des Lebens eingenommen hat und zum Leben wird. Das Zeichen heißt symbolische Konvention und trägt die Kraft in sich, jeden Lebensbereich zu durchdringen, sich seiner zu bemächtigen und an dessen Stelle zu treten. Das Zeichen verändert unsere Wahrnehmung und macht sie zu Erkenntnis. Veränderte Wahrnehmung bedeutet veränderte Realität. Aber erst durch Zeichen erkennen wir „etwas“. Und Zeichen bedeutet zugleich Konvention, bedeutet Gesellschaft. Wir befinden uns immer in einem Prozess, in Veränderung und dieser prozessualen Veränderung unterliegt auch unsere gesamte Wahrnehmung dessen, was wir „Realität“ nennen. Die Realität ist sozialisierte Konvention. Nichts bleibt, was oder wie es ist. Am Ende stehen wir vor dem Nichts.

Ich glaube an Zeichen. Ich glaube daran, dass wir symbolische, symbolisierende Wesen sind. Ich glaube an Veränderung. Ich glaube aber auch, dass unsere Fähigkeit zu symbolisieren, auf Zeichenebene zu kommunizieren, nichts anderes ist als ein stark ausgeprägter Instinkt. Natürliche Entropie in der Verteilung der (Überlebens-) Fähigkeiten. Unser Schutz, unsere Anpassung. Nichts Göttliches, nichts Außernatürliches, nichts Übernatürliches. Letzten Endes sind wir Lebewesen, auch wenn uns die Einbildungskraft befähigt, uns alles Mögliche auf uns einzubilden. Anderes Leben, andere Lebensformen, andere Kulturformen als unwürdig(er) zu erachten und uns selbst aus einem natürlichen Lebenskreislauf zu entheben. Aber wir können nicht anders. Unsere Stärke heißt Gemeinschaft, Gesellschaft, Kultur. Unsere Stärke ist das Zeichen. Das Zeichen von Gemeinsamkeit. Wir benötigen technische Behelfe, Hilfsmittel, Werkzeuge. Das Zeichen ist ein Zeichen vom Mensch-Sein und Mensch-Sein bedeutet auch in einem (gesellschaftlichen) Zusammenhang zu stehen, zu kommunizieren und Zeichen zu benutzen.

Wir überzeugen, überreden, kontrollieren, oktroyieren, revidieren. Letztendlich tut auch die Wissenschaft nichts anderes, ist auch das Bekenntnis zu jeder Form von Wissenschaftlichkeit nichts anderes als ein Glaubensbekenntnis, nichts anderes als das Bekenntnis innerhalb eines historisch-sozio-kulturellen Zusammenhanges zu stehen. Ein Glaube an „unsere“ kulturellen Errungenschaften, ein Glaube an Wissen. Geheimnis des Glaubens.

 

 

 

fulti

In meiner damaligen Studienzeit las ich einen wissenschaftskritischen Wissenschaftstext der das Henne - Ei Dilemma umlegte im Sinne der Wissenschaftskritik bearbeitete. In Folge ging es u.a. Um den Wahrheitsanspruch (und damit den Anspruch „Realität“ beschreiben zu können). Die Naturwissenschaft erhebt ja den Anspruch der „echten“ Wissenschaft basierend auf Messbarkeit und (laborantische) Wiederholbarkeit und lässt dabei den Kontext, man könnte wie oben sagen die Gesellschaft, die Kultur, multiple Abhängigkeiten etc, gänzlich außer Acht. Geisteswissenschaften haben nie den absoluten Wahrheitsanspruch erhoben, im vollen Bewusstsein des eigenen Unwissens und beschreiben dennoch die Realität wahrhaft. Paradox genug?
Nein, in dem Text weiter, stellt der Autor den seinigen Gedanken zur Verfügung, dass auf Basis der neuesten (naturwissenschaftlichen) Erkenntnisse -Quantenmechanik - die Wahrheit oder Realität sich genau so verhält… mal Welle mal Punkt oder Partikel, je nach Betrachter*in und Betrachtungsweise.
Klar ist jedenfalls, so auch die Annahme, das die reine Beobachtung, die Anwesenheit einer beobachtenden Instanz einen Beitrag zur Realität leistet, ganz im Sinne der Systemtheorie. Die Beobachtung per se und damit Verbunden der menschliche Versuch die Beobachtung zu fassen und das geschieht in Zeichen, Symbolen und Begriffen, verändert das was eigentlich ist - beinahe zur Unkenntlichkeit.
Der Text endet jedenfalls damit, dass sich die Wahrheit verhält wie die Quantenmechanik und sich nicht einem so oder so denken - wenn überhaupt - erfassen lässt. Wissenschaft kann maximal die Anstrengung versuchen, sich als ergänzende Betrachtungsweisen zu verstehen und dennoch nur eine gefärbte, hinreichende Beschreibung liefern kann.
Ich glaube, das war/ist gut gedacht und nahe dem, das ich glaube.
(Dass der genannte Text im Kontext des Konstruktivismus in den internationalen Beziehungen entstand, ist wohl unwesentlich und hier nur eine Randnotiz)

Mi. 29/05/2024 17:53 Permalink
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16. + 17.11.2023
 
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