„Wiener Alltag“, das neue Veranstaltungsformat der ÖGFA, nimmt sich die Architekturproduktion der Gegenwart abseits von singulären Best-Practice-Beispiel vor. Hier werden Phänomene untersucht, die an mehreren Orten der Stadt gleichzeitig auftreten. Welche Architekturen sind das, und welche Personen, Ideen, Begehrlichkeiten oder Paragrafen stehen dahinter? „Wiener Alltag“ ist ein offenes Format, zu dem jede*r eigene Recherchen beitragen kann, die dann gemeinsam diskutiert werden. Die erste Ausgabe widmet sich den Wohnbauten der 2010er und 2020er Jahre, die exakt an die Hochhausgrenze der Wiener Bauordnung (35 Meter) stoßen. Eine Flut von zehn- bis elfgeschossigen Bauten, die meist keine einzelnen Hochpunkte sind, sondern Baublock. Folgt die Form hier nur dem Paragrafen? Werden die 35 Meter zur neuen Wiener Standard-Traufhöhe? Welche Dichten werden hier produziert, welche Stadtbilder und Stadträume?
Wiener Alltag: Das Format
Immer wieder haben sich Architekt*innen mit der gebauten Realität des Alltags beschäftigt. In quasi-ethnologischen Exkursionen untersuchten sie Form und Gestalt des (mehr oder weniger) anonymen Bauens. 1957 erschien Native Genius of Anonymous Architecture von Sibyl Moholy-Nagy. Roland Rainer (Anonymes Bauen Nordburgenland), Bernhard Rudofsky (Architecture without Architects) und Traude Windbrechtinger (Anonyme Architektur) verfolgten diesen forschenden Ansatz in den 1960er Jahren weiter, auch Raimund Abraham (Elementare Architektur), Hans Hollein (Zurück zur Architektur), Günther Feuerstein (Archetypen des Bauens) und Walter Pichler betrieben Feldforschungen und systematisierten, katalogisierten und interpretierten das Gefundene. Eine Generation später widmete sich Keller Easterling in Medium Design den grau-beigen Manifestationen globaler Baustandards, die auch Rem Koolhaas in Generic City polemisch beschrieben hatte.
Die ÖGFA findet, es ist Zeit für ein Update dieser empirischen Neugier. Denn heute, da der Bauboom die Stadt beschleunigt und verändert, geschieht dies keineswegs nur mit herausragenden Einzelbauten, und ebenso wenig ausschließlich durch Architekt*innen. Das, was die Stadt wirklich prägt, entsteht im Schatten der Landmarks. Aber wer und was sind die Akteur*innen? Wie beurteilen wir das, was gebaut wird, wenn wir daran dieselben Wertmaßstäbe anlegen wie an die Architekturen, die breit rezipiert werden? Was, wenn wir auch das urbane Anonyme und Vernakuläre des 21.Jahrhunderts ernstnehmen? Was passiert eigentlich in Wien und in seinem Umland? Wo sind die Fehlstellen und Brüche zu verorten, aufgrund derer uns der gebaute Alltag nicht gut genug erscheint?
„Wiener Alltag“ startet als neues und eigenes Veranstaltungsformat im Februar 2023 und wird voraussichtlich dreimal im Jahr stattfinden. Eine Dokumentation der Recherchen und Diskussionen ist geplant.
Gäste:
Harald Höller studierte Architektur in Wien und Madrid und gründete 2006 das Büro Sue Architekten mit Christian Ambos und Michael Anhammer. Seit 2017 Partner und Geschäftsführer bei Franz&Sue Architekten.
Verena Mörkl studierte Architektur an der TU Wien und der ETSA Barcelona, ist seit 2016 Mitglied des Grundstücksbeirats der Stadt Wien und ist Geschäftsführerin des 2003 gemeinsam mit Christoph Mörkl gegründeten Büros Superblock.
Georg Scherer arbeitet als Bibliothekar und analysiert und kritisiert auf seinem Blog WienSchauen und als Gastbeiträger in der Zeitung Der Standard das aktuelle Baugeschehen und die Baukultur in Wien.
Anna Wickenhauser studierte an der TU Graz, der ETH Zürich und der UdK Berlin. Mitarbeit bei Adolf Krischanitz und Herzog & de Meuron. 2001 gründete sie ihr Büro in Kopenhagen, seit 2004 in Wien. Seit 2020 Präsidentin von docomomo austria.
Moderation: Maik Novotny