03/02/2022

Kunst regt auch in Skigebieten an und auf: Ein Plakat mit der Aufschrift „McDonald’s – Soon near you“ auf einem leeren Baugrund gehört ebenso dazu, wie Roman Signers 38 fallende Reifen. Alle zwei Jahre laden die Architekten Theo Deutinger, Stefanos Filippas und ihr kleines Team zum Festival „minus20degree” nach Flachau in der Nähe von Salzburg ein. Ort und Landschaft werden von ihnen wie ein Ausstellungsraum behandelt.

03/02/2022

Warten auf den Hubschrauber, aus dem Roman Signer für die Arbeit "Fallende Reifen" Autoreifen auf ein Schneefeld wirft.

©: Lena Prehal

Roman Signer, Flachau 2022

©: Lena Prehal

"Fallende Reifen", Roman Signer, Flachau 2022

©: Lena Prehal

"I'm OK", Anna Vasof, Flachau 2022

©: Lena Prehal

HZWEIO, Martin Breindl + Bernhard Kathan, Flachau 2022

©: Lena Prehal

"Soon near you", Studierende des Social Design Studios der Universität für angewandte Kunst Wien, Flachau 2022

©: Lena Prehal

"Swiftly and silently doing its work", Miriam Haman, Flachau 2022

©: Lena Prehal

"Drei Lieder für die Autobahn", Collectief Walden, Flachau 2022

©: Lena Prehal

Theo Deutinger in einem "Westover" von Heidi Specker, Flachau 2022

©: Lena Prehal

"Alles geht den Bach runter", atelier ///, Flachau 2022

©: Lena Prehal

Filme von Helga Fanderl im Schneekino, Flachau 2022

©: Lena Prehal

Schneespinnweben auf den Rücken, in den Haaren, auf der Kamera. Über uns ein Hubschrauber, dessen Rotorblätter mit ohrenbetäubendem Lärm Schneewehen über ein freies Feld jagen. Fühlt sich so Kunst an? 

Es ist Freitag, der 21.1.2022. Wir sind am Ortseingang von Flachau, neben der Autobahnauffahrt, ca. 30 Leute. Wo eben eine geschlossene weiße Schneedecke war, liegen jetzt 38 Autoreifen in unserem Blickfeld. Der Schweizer Künstler Roman Signer – laut Standard “Meister des genialen Unfugs” – hat sie von beachtlicher Höhe aus, aus dem Hubschrauber geworfen. Es ist einer dieser seltenen Momente, in denen nichts erklärt werden kann oder muss. Auch Signer selbst erwähnt nur, dass er „wissen wollte was passiert, wenn er Autoreifen aus einem Hubschrauber wirft“. Zu diesem Zeitpunkt haben die Reifen immer noch keine erkennbare Ordnung angenommen, obwohl sie im selben System nach den gleichen Prinzipien gefallen und aufgeprallt sind. 38 Zufälle sind gerade vom Himmel gefallen. Unbeschreiblich. Fertig.



Ein paar hundert Meter entfernt im Ortskern Flachau. Die Skipiste reicht hier praktisch bis in die Hotelzimmer. In der Enns, die durch den Ort fließt, steht eine Schneekanone. Ein kritischer Hinweis auf den Umgang mit der Natur? Ein Fehler in der Matrix? Einer von vielen? 

Der nächste scheinbare Systemfehler zeigt sich in der Nähe des Skihangs, unterhalb des Lifts. Gondel um Gondel zieht vorbei. Anna Vasof hat hier simuliert, was als Angst in jeder Gondel mitfährt: die Gefahr des Stürzens, des Herausfallens. 

Weitere Systemfehler an diesem Tag im Ort: In ihre Pullover (Westover) hat Heidi Specker schwarzweiß Fotos von Pilzen, Frauen, Autos und Eis stricken lassen. Die Übergabe der übergroßen Kleidungsstücke erfolgt im kommerziellen Preisverleihungs-Modus: "And the Westover for the best curator of this festival goes to... And the Westover for the best Bürgermeister of this town goes to… And the Westover for the best…goes to…” So auch fühlt sich Kunst an.

Ein paar Schritte weiter brennt Feuer in einem opulent verzierten, altarähnlichen Bronzeofen. Wir haben warme Hintern und trotzdem kalte Hände. Erst lauschen wir einer Art Sprechgesang, dann legt man ein Holzscheit in das Maul einer Fratze, die Teil eines Reliefs auf dem Bronzeofen ist. Das Relief wirkt wie eine Referenz an ein Jugendstilfresko, in dem ein Gott der Kunst, des Wärmeverlusts und der Schlitzohrigkeit angebetet wird. Die Protagonisten des niederländischen Collectief Walden haben uns und den Ofen vor dem alten Sägewerk platziert, als gäbe es nur die Kunst und das alte Dorf, als wäre das „andere Flachau“ – der Skiort – ein Ding der Unmöglichkeit. Man singt und spricht sich in Interviewfragmenten über den Bau der Autobahn aus, die letztlich für den Ort Gut und Böse darstellt, aber als prägendes Stadtelement akzeptiert und genutzt wird. „Da kommt halt, ja, da kommt halt alles Mögliche, kommt daher…“, singen Collectief Walden zu einem leichten Popbeat, „Das meiste ist auf Tourismus aufgebaut… Die Städter werden immer Urlaub brauchen… Aufbruch! Alles Aufbruch, Aufbruch… Ja, aber von der Landschaft kannst du nicht abbeißen.“ 


Auf dem Weg zurück durch tiefen Schnee, stockdüster, am Ende einer kleinen Karawane: das Gespräch mit einem Choreografen. Er sagt, „dass Kunst immer den anderen Weg gehen muss. Ob der andere der richtige sei, spiele dabei keine Rolle, es müsse aber der andere sein.“ Hinter uns liegt der Raum unter der Autobahnbrücke Richtung Salzburg, den Miriam Hamann mit einer Leuchtinschrift versehen und atmosphärisch völlig verändert hat. Bläulich kalt wirken Beton, Neonschrift und Schneedecke zusammen. Unsere Gesichter sehen fahl und gleichzeitig strahlend aus. Eine Ahnung von Dystopie macht sich breit. Hat man die Chance allein in diesem, an den Innenraum einer Kathedrale erinnernden Raum unter der Brücke und mit der Schrift zu sein? Dann könnte man überall sein, irgendwo.

3 Minuten und 20 Sekunden, 18 Bilder pro Sekunde, Super 8. Das sind die Parameter, mit denen sich Helga Fanderl auch in und um Flachau auf den Weg begeben hat, kaum Sichtbares auf Film zu bringen. Ihr hat man ein Schneekino gebaut – eine Leinwand ganz aus Schnee. Jetzt trifft das Licht auf die unregelmäßige Oberfläche, bricht sich leicht und glitzert. Es sind die einzigen Minuten an diesem Tag, in denen es nicht in dicken, schnellen Flocken schneit. 

Es sind poetische Attacken auf allzu stumpfen Skiverstand, die das Raum- und Kunstfestival minus20degree in Flachau installiert. Gemeinsam arbeitet man mit und an Landschaft, Ortschaft, Augenscheinlichem und immer wieder mit Schnee. Man produziert lustvoll und unvoreingenommen scheinbare Systemfehler, die – letztlich selbstbewusst anders – die Nutzung des gemeinsamen Raums ins Blickfeld rücken. Man möchte zum Denken anregen.

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Alle zwei Jahre laden die Architekten
Theo Deutinger, Stefanos Filippas und ihr kleines Team zum Festival „minus20degree” nach Flachau in der Nähe von Salzburg ein. Ort und Landschaft werden von ihnen wie ein Ausstellungsraum behandelt. Diese sind gleichzeitig Material und Ausgangspunkte für künstlerische Interventionen. Ausgesuchte, internationale Künstler:innen nehmen direkt Bezug zu dem, was sie vorfinden, reagieren darauf und entwickeln eigens für diese Situation ihr jeweiliges Projekt. Der Festivalbesuch ist ein Kunst-, aber auch ein Naturerlebnis.

Das Programm führt an Orte, die weit weg vom touristischen Geschehen liegen oder sich genau mitten drin befinden und von den Bewohner:innen wie auch den Skitourist:innen wahrgenommen werden können. Ein farbiges und informatives Leitsystem ergänzt die ohnehin auffälligen Situationen, während sich Team und Künstler:innen immer gut erkennbar mit pinken Hauben von den üblichen Winterurlaubern abheben.

Ohne Skiausrüstung an- und abzureisen, nur wegen der Kunst nach Flachau zu kommen, wird auch nach über 10 Jahren von manchem Flachauer mit Verwunderung notiert. Im Gespräch löst sich womöglich etwas auf, was viele missverstehen: Nicht immer will Kunst verstanden werden, oft soll sie erlebt werden. Und Kunst kann auch Humor. 

 

Beteiligte 2022:

I’m OK Anna Vasof (AT/GR)

Alles geht den Bach runter atelier /// (DE/AT)

Drei Lieder für die Autobahn Collectief Walden (NL/HU)

Magic Mountain Heidi Specker (DE)
Film auf Schnee Helga Fanderl (DE)
HZWEIO Martin Breindl und Bernhard Kathan (AT)
Swiftly and silently doing its work Miriam Hamann (AT)
Fallende Reifen Roman Signer (CH)

Visiting Artist Laura Horelli (FIN)
Auf der Jagd nach Schnee Studierende des Social Design Studios der Universität für angewandte Kunst Wien: Adva Eshel, Amanda Sperger, Dila Demircan Ozer, Fabio Spink, Frida Stenbäck, Gala Kuckhoff, Jelena Maschke, Joy Xu, Juan Carlos Vértiz Márquez, Judith Haslöwer, Laura Mann, Lorenz Zenleser, Orest Yaremchuk, Paul Chiwona, Rita Andrade Silva Esteves Martins, Robert Bettinger

Team minus20degree: 
Theo Deutinger (AT/NL), Stefanos Filippas (GR/NL), Eliza Mante (GR/NL), Ana Rita Marques (PT), Heinz Riegler (AT/AU) u.a.

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Hinweis: https://www.derstandard.at/consent/tcf/story/2000080027903/aktionskuens…

 

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