Hito Steyerl beschreibt die weißen Wände des White Cube als Nicht-Orte und perfekte Orte gleichzeitig – als selbstauslöschendes Vakuum, als neutraler Hintergrund und ästhetische Abgrenzung, was ihn zu einem beinahe sakralen Raum werden lässt. „Obgleich der White Cube sich als neutral und leer inszeniert, stellt er auf den zweiten Blick eine Technik der Installation dar, die Anleihen bei den autoritativen Raumkonzepten von Kirchen, Gerichtssälen und Laboratorien nimmt. (1) Die Aufnahme in den White Cube verleiht dem Werk nicht nur die Aura der Kanonisiertheit – sie entscheidet letztendlich auch über dessen Wert im Kunstsystem.“ 1930 hatte sich die Farbe Weiß als ein Kennzeichen moderner Architektur durchgesetzt. Einen wesentlichen Beitrag dazu lieferte Le Corbusiers Schrift „L’art decoratif d’aujurd’hui“ (1925), wie auch Adolf Loos’ Essay „Ornament und Verbrechen“ (1908), der darin nicht nur evolutionstheoretische Metaphern bemüht, sondern sich auch ethnologischer und sozialdarwinistischer Diskurse bedient: „Der Papuaner und der kriminelle verzieren ihre Haut (…). Aber das Fahrrad und die Dampfmaschine sind frei vom Ornament. Das Vordringen der Zivilisation befreit systematisch Gegenstand um Gegenstand von ihrer Ornamentierung.“ Weißheit wird darin nicht nur als eine Frage der Ästhetik betrachtet, sondern erhält auch eine ethische, funktionale und technische Dimension. (2) „Die weiße Farbe wird als moralisch bezeichnet, als Insignium der Reinheit und hochstehenden Sittlichkeit.“ Somit werden weiße Wände mit den Werten des westlichen Fortschritts aufgeladen, deren Leere sich als eine Fülle moralischer, ästhetischer, zivilisatorischer und selbst polizeilicher Rechtschaffenheit erweist. Darüber hinaus funktionieren sie als Technologie der Wahrheit. „Vor dem Hintergrund weißer Wände erscheint" – so Le Corbusier – „alles endlich ‚wie es ist‘.“ (3)
Dem gegenüber steht die Black Box oder der Kinoraum als dionysisches Prinzip dem apollinischen Prinzip des White Cube. „In der Black Box wird das Publikum Leidenschaften und Trieben ausgesetzt, derer es sich kaum erwehren kann.“ Nach wie vor besteht die Auffassung, dass die Black Box vor allem ein affektiver Raum ist, was auf eine Vorstellung zurückgeht, die im Sinne einer traditionellen Farbmetaphysik die Farbe Schwarz mit Sinnlichkeit, Affektivität, Magie und Irrationalität verknüpft. „Black Box ist Ort der Illusion, des Reizes, des Unechten, Ort einer Überwältigung. Sie ermöglicht ‚mit der Ästhetik der neuen Technologien die Wiederkehr des Unterdrückten‘. (4) Verführung, Fesselung, Magie, Spektakel, unterdrücktes Unbewusstes – das Vokabular, mit dem die Black Box beschrieben wird, ist der technizistischen, gesäuberten, idealistischen, sublimierenden und aufgeklärten Vorstellungswelt des White Cube diametral entgegengesetzt.“ Dass das Verhältnis zur Wirklichkeit in beiden Raummodellen anders ist, veranschaulicht auch Adrian Pipers Arbeit „Black Box/White Box“ (1992), das als Referenzwerk der Ausstellung „This World Is White No Longer. Ansichten einer dezentrierten Welt“, die von 24. April bis 10. Oktober im Rupertinum Salzburg diente: Zwei Sichtweisen auf die Misshandlung des schwarzen US-Bürgers Rodney King durch die örtliche Polizei 1991 und die darauffolgende Unterstützung der Täter durch den damaligen Präsidenten George Bush senior – „eine schwarze und eine weiße Sichtweise“. Die Installation ermöglicht es zwei unterschiedliche Perspektiven einzunehmen und vom jeweils eigenen Standpunkt aus einen Blickwechsel zu vollziehen. „In einem solchen Prozess der Dezentrierung des Denkens wird Diskriminierung mit einem Mal spürbar. Während Betroffene darin eine Bestätigung ihrer Situation finden, lernen die anderen, was es bedeutet Rassismus zu erfahren. Pipers Arbeit ist ein Schlüsselwerk der jüngeren Kunstgeschichte. Wie kaum eine andere Arbeit schließt sie die Problematik von Rassismus und Xenophobie mit dem Erkenntnispotenzial eines empathischen Perspektivenwechsels kurz“, so der Begleittext zur Ausstellung.
Dazu passend schreibt Steyerl, dass sich in der Gegenüberstellung des schwarzen und weißen Ausstellungsraums „ein fast schon manichäisches binäres Modell“ ergibt. „Vor allem im Bereich der Gegenwartskunst [Anm.: was bei Pipers Arbeit aus dem Jahr 1992 zutrifft] koexistieren beide Modelle der Ausstellung jedoch immer häufiger. Und dort geraten ihre verschiedenen Ökonomien von Zeit und Raum in einen Konflikt (…). Neben diesen teils kulturkonservativen Untergangsszenarien, die den Gegensatz von Licht und Dunkel, Souveränität und Verunsicherung, Essenz und Schein betonen – und somit immer wieder in die binäre Farbmetaphysik eines unüberwindlichen Gegensatzes von Schwarz und Weiß verfallen – gibt es jedoch noch andere Ansätze.“ Dabei geht es um die Inklusion von Black Box Modellen in die Ausstellungspraxis. Mark Nash interpretiert die Black Box (dark room) auch als einen Raum der Freiheit, so darin vor allem Arbeiten gezeigt würden, die die klassischen Identifikationsmechanismen und mechanischen Dramaturgien des Mainstream-Kinos unterlaufen und somit ihren zwanghaften Apparaturcharakter infrage stellen. Auch die Integration kollektiver und politischer Arbeiten in den Kinoraum destabilisiere das autoritäre Verhältnis, das dieser traditionell mit dem Publikum eingehe. So lässt sich auch die Arbeit „Black Box/White Box“ als eine Variante von Expanded Cinema lesen und erweitert den zentralperspektivischen Kinoraum, wodurch diese zu einem fluiden Handlungsraum wird und Zuschauer*innen zu Akteur*innen in einem sozialen Feld. Mit Steyerl gedacht: Erst durch die Überwindung des Binarismus eröffnet sich ein Möglichkeitsraum, der hauptsächlich durch die Heterogenität seiner Erscheinungen gedacht werden kann. „Diese Vielfältigkeit erweist sich allerdings nicht vor dem Hintergrund eines als universell geltenden Farbmaßstabs, sondern im Rahmen eines dynamischen und changierenden Paradigmas (…)“
Es stellt sich die Frage, welche Gültigkeit diese Begriffsbestimmung heute noch besitzt.
Die von Thorsten Sadowsky und Jürgen Tabor kuratierte Ausstellung „This World Is White No Longer. Ansichten einer dezentrierten Welt“ nahm James Baldwins Essay „Fremder im Dorf“ (orig. Stranger in the Village, 1953) zum Anlass, um über aktuelle Verhältnisse nachzudenken. Ein Auszug:
Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, hatte vor mir kein schwarzer Mann dieses kleine Dorf in der Schweiz jemals betreten. Bereits vor meiner Ankunft hatte man mir erzählt, dass ich für die Bewohner wahrscheinlich eine „Sehenswürdigkeit“ sein würde; daraus schloss ich, dass in der Schweiz Menschen meiner Hautfarbe selten sind; aber natürlich sind Städter außerhalb der Stadt immer eine „Sehenswürdigkeit“. Ich wäre nicht auf die Idee gekommen – möglicherweise weil ich Amerikaner bin –, dass es irgendwo auf der Welt Menschen gibt, die noch nie einen Schwarzen gesehen hatten. Dies lässt sich allerdings nicht mit der Abgeschiedenheit des Dorfes erklären. Es liegt sehr hoch, aber nur vier Stunden von Mailand und drei von Lausanne entfernt. Trotzdem kennt es kaum jemand, und nur wenige Menschen würden ihre Ferien hier verbringen wollen. (…)
Joyce hat recht, wenn er behauptet, dass die Geschichte ein Alptraum sei – aber vielleicht ist es einer, aus dem man nicht erwachen kann. Die Menschen sind in der Geschichte gefangen und die Geschichte in ihnen.
Ich dachte an Weiße, die zum ersten Mal in ein afrikanisches Dorf kamen, Fremde, so wie ich hier einer bin, und versuchte mir vorzustellen, wie die verblüfften Einwohner ihr Haar betasteten und über ihre Hautfarbe rätselten. Doch es gibt einen großen Unterschied zwischen dem ersten weißen Mann, den die Afrikaner sahen, und dem ersten Schwarzen, den die Weißen sahen.
Der Weiße empfindet das Staunen seines Gegenübers als Tribut, denn er ist gekommen, um die Einheimischen zu erobern und zu bekehren. Dass sie im Vergleich zu ihm selbst minderwertig sind, wird nicht einmal ansatzweise in Frage gestellt. Ich hingegen finde mich ohne jeden Gedanken an Eroberung unter Menschen wieder, deren Kultur mich beherrscht, mich sogar in gewisser Hinsicht erschaffen hat, Menschen, die mich mehr Zorn und Erbitterung gekostet haben, als sie je wissen können, obwohl sie keine Ahnung von meiner Existenz hatten. (…)
Ich erwähnte, dass die Kultur dieser Menschen mich beherrscht – dennoch kann man kaum sie für die europäische Kultur verantwortlich machen. Amerika ist ein Produkt Europas, die Bewohner dieses Dorfes aber haben Amerika nie gesehen, und kaum mehr von Europa als die kleine Stadt am Fuß ihres Berges. Trotzdem bewegen sie sich mit einer Autorität, die ich niemals haben werde, und betrachten mich zu Recht nicht nur als Fremden in ihrem Dorf, sondern auch als verdächtigen Nachzügler, als jemanden, der keine Ansprüche auf etwas erheben kann, was sie, wie unbewusst auch immer, als ihr Erbe betrachten. (5)
Der postkoloniale Diskurs setzte in jenen Augenblicken ein, als die politische, theoretische oder künstlerische Beschreibung des Verhältnisses zwischen Herrschenden und Beherrschten, zwischen der dominanten Kultur des Westens und den dominierten Kulturen der (ehemaligen) Kolonien nicht mehr ausschließlich der Seite der Macht vorbehalten blieb. Ab den 1990er Jahren zeichneten sich zunehmend grundsätzliche strukturelle Veränderungen im Repräsentationsgefüge (internationaler Kunst) ab. Inwiefern offenbart sich weiterhin die enthnozentrische Perspektive in der Selektion von Kunst generell nach ausschließlich westlichen Kriterien und Christian Kravagnas Befund von vor mittlerweile 20 Jahren: „Im Namen des Diversen wurde die Differenz von westlicher Modernität und authentischer Andersheit festgeschrieben. Die ‚Inklusivität‘ westlicher Ausstellungspolitik ersetzte die Ausgrenzung des mit ästhetischen Standards der Moderne Unvereinbaren durch ein neo-exotisches Interesse am Subnormativen, das meist kulturell gedeutet wird und damit nichtwestlichen Künstler*innen wiederum in die Position einer kulturellen Stellvertreterschaft drängt.“ Unter welchen Bedingungen werden nichtwestliche Künstler*innen heute integriert und ist Folgendes immer noch gültig: „Wenn du nicht deine angeblich eigene Kultur zum Ausdruck bringst oder auf sie verweist, wirst du nicht als authentischer Künstler angesehen.“ (Rasheed Araeen) Kravagna beschreibt das Sich-abzeichnen von Ausstellungspraxen, die an bestimmten Problemstellungen interessiert ist, ohne sie von vornherein unter Kriterien der Differenz zu handeln. Doch könne die Frage der Wahrnehmung und Darstellung außereuropäischer Kunst nicht isoliert von anderen Herausforderung betrachtet werden, die aus der postkolonialen Kritik am eurozentrischen Universalismus der westlichen Moderne hervorgehen. Dabei ist die Rolle des Kulturellen unter den sich wandelnden Rahmenbedingungen selbst in einem Wandel begriffen, was sich auch unter dem Stichwort „Hybridität“ fassen lässt – ein Begriff, der die Vermischung (Synkretismus) der Kulturen bezeichnet, auch „Transkulturalität“. „Nicht erst seit dem Zeitalter des Imperialismus, sondern verstärkt auch im Zusammenhang so genannter (ökonomischer) Globalisierung scheint der Kultur ein immer wichtigerer Stellenwert zuzukommen: sei es auf subjektiver Ebene als identifikatorischer Rückhalt, sei es auf wirtschaftlicher Ebene als Vorreiter kommerzialisierten Entertainments oder sei es auf politischer Ebene als Basis lokaler Aktionsformen.“ (Christian Höller)
(1) Vgl. Brian O’Doherty, In der weißen Zelle. Inside the White Cube, 1996
(2) Vgl. Mark Wigley, White Walls Designers Dresses. The Fashioning of Modern Architecture, 1995
(3) Hito Steyerl, White Cube und Black Box. Die Farbmetaphysik des Kunstbegriffs, 2005
(4) Vgl. Ursula Frohne, „That's the only now I get“, in: Black Box. Der Schwarzraum der Kunst, 2001)
(5) https://www.deutschlandfunk.de/identitaeten-4-7-fremder-im-dorf-100.html (Englisch original: https://www.janvaneyck.nl/site/assets/files/2312/baldwin.pdf)