21/09/2021

Vier Namen, eine Jahreszahl,
keine weiteren Informationen

Schlafwandler, Schattenwerfer und das Fehlen des Denkmals, Übereinstimmung, Dokument, Nahtstelle: „Die Stadt gehört allen!

Was wir anblicken, blickt auf uns zurück. Johannes Gierlingers Film Die vergangenen Zukünfte geht (nah) heran: Vier Namen, eine Jahreszahl, keine weiteren Informationen, und erinnert: Das ist das Problem des Denkmals. Es verewigt. Oder besser gesagt, es versucht sich einzuschreiben. Es ist beständig, steht und wacht und trotzdem wird es übersehen. Man könnte sagen, Denkmäler sind Erinnerungsmahnmale, nur werden sie vergesslich und leise, wenn sie nicht beachtet werden. Aber: Sehen bedeutet nicht immer gleich verstehen.

Bettina Landl zu Johannes Gierlingers Film
Die vergangenen Zukünfte

Dokumentarfilm, AT
Farbe+SW, 98 min.
Diagonale 2021

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21/09/2021

Filmplakat: "Die vergangenen Zukünfte", 2021. Screenshot, Bild: (c): Johannes Gierlinger

Nachbilder, Straßensperren: Die Stadt gehört allen! Film: "Die vergangenen Zukünfte", 2021. Screenshot, Bild: (c): Johannes Gierlinger

Kann man der politischen Ohnmacht entfliehen und ist der Traum vielleicht der richtige Ort dafür? Film: "Die vergangenen Zukünfte", 2021. Screenshot, Bild: (c): Johannes Gierlinger

Bilder und ihre Montage, das Rascheln der Schlüssel in der geballten Faust, nach oben gestreckt, der Blick auf den Boden und Schritte, über Pflastersteine, grasdurchwachsen, überwuchert. Wir folgen der Regie, hören/sehen, was die Kamera hört/sieht und wir denken mit, denken nach, reflektieren – über „Widerstand“, Die vergangenen Zukünfte (s16mm/2021/98min, Regie/Buch/Kamera/Schnitt: Johannes Gierlinger), das Absurde (nach Albert Camus), Revolution(en), Scheitern, Hoffen, Erinnern, Erzählen: „Schulter an Schulter gegen Faschismus!“ und „Hoch die Internationale Solidarität!“

Begegnung(en) im Märzpark (März 1848/Exempel): Revolution in Wien und Sturz des Staatskanzlers Metternich, Pressefreiheit und Proklamation einer Verfassung, Aufhebung der Grunduntertänigkeit der Bauern und damit Ende des Feudalstaats. Gierlinger verbindet historische Kämpfe mit heutigen Formen des Protests und reflektiert wie sich die Praxis des kollektiven Erinnerns in die Gegenwart einer Stadt und das Handeln ihrer Bewohner*innen einschreibt. Er fragt, nach Walter Benjamin: Muss man die Errungenschaften der Vergangenheit vor der Gegenwart schützen? – und: Gibt es den Körper der Geschichte? „Ich notierte: Falls die Geschichte ein Körper ist, ein Raum, in dem das Licht sich verändert, so findet sich Unerwartetes oftmals in den letzten Winkeln, ruhend, aber nicht schlafend. Dort, wo man meist vergisst, hinzublicken, weil man allzu oft in die Ferne blickt und seine Augen am Horizont verliert, bis sie irgendwann brennen und schmerzen.“ Der Film propagiert einen kritischen Blick, und proklamiert, dass nicht fündig wird, werd nicht sucht – man tief(er) graben müsse. Gierlinger zeigt eine rechtsradikale Gruppe, die auf den ehemaligen Gräbern der Revolutionäre von 1848 im Märzpark zusammenkamen, um von hier aus ihren Marsch gegen Zuwanderung und Migration zu starten. „Ich wusste, dass ein Teil von ihnen sich als Erben der Revolution sehen. Aber wir wissen ja, die Geschichte hat viele Lesarten und warum sollten wir sie einer Gruppe überlassen, die diese Ereignisse nur monologisch liest?“

Wir halten fest: Nachbilder, Straßensperren und dass die Stadt allen gehört. Never let the …

„Ich dachte an die Sohlen meiner Schuhe und ob jeder Schritt etwas hinterlässt, als wären es Sohlen der Erinnerung. Und so begab ich mich erneut auf die Suche. Sie Straße ist ein Ort, an dem das Politische immer noch verhandelt oder sichtbar wird, trotz all den Displays oder Bildschirmen unserer Zeit. An den verschiedenen Ecken, die verschiedenen Ideen und Ideologien. Vielleicht sollte man daran denken, die Dinge zu erkennen, indem man sie wieder erkennt – indem man sie begreift und nicht darauf wartet, ergriffen zu werden. Den Gedankengang verformen, um Raum zu schaffen für die Geschichte, um sie dialogisch zu machen.“ Gierlinger zeigt auch die Bilder derer, die gegen diesen Aufmarsch demonstrierten und an der Märzstraße entlang zogen – einer Straße, benannt nach den Märzgefallenen. „Ein Ende braucht die Geschicklichkeit und Fantasie von glücklichen Kindern, solche, die aus der Vergangenheit sprechen lernten, solche, die die Bilder genau kennen und die wissen, wie leicht diese zittern und ins Wanken geraten.“

Freiheit, Gleichheit, Denkmäler, Friedhöfe, Maschendrahtzäune, verdorrtes Gras, Steinskulpturen, Felsen gleich aus der Erde, und das Freilegen von Geschichte, „Notiz: Vier Namen, eine Jahreszahl, keine weiteren Informationen. Das ist das Problem des Denkmals. Es verewigt. Oder besser gesagt, es versucht sich einzuschreiben. Es ist beständig, steht und wacht und trotzdem wird es übersehen. Man könnte sagen, Denkmäler sind Erinnerungsmahnmale, nur werden sie vergesslich und leise, wenn sie nicht beachtet werden. Was ist ihre Funktion, wenn sie sich nicht in das Gedächtnis einschreiben? Was ist ihre Funktion, wenn sie nicht mehr weh tun? (…) Die Differenz eröffnet den Raum der Geschichte und manche Brüche haben ihren Sinn.“ Nichts erinnert daran, was (hier) vorher war, Ausgrabungen, die Frage nach den Bildern, und „Durchgang frei halten“, Rekonstruktion von Geschichten: „Während die Menschen vor dem Rathaus standen, wandte sich mein Blick zu den Archiven im Keller des Rathauses. Wir nehmen auf, dokumentieren, sammeln, skizzieren, damit etwas bleibt. Ich sah Wandanschläge, Geschichte, Ideen. Der Historiker begann sie zu montieren.“

Variation ihrer Geschichte(n), Austauschbarkeit der Bilder – wieviel Gestern (be)findet sich im Heute? (De)Konstruktion: „Mit den Spuren der Vergangenheit vor dem inneren Auge, der Frage, ob diese Revolution mehr Scheitern oder Antrieb war, erblickte ich verschiedenste Gruppen. Ich sah die Menschen im Jahr 2020 und wie sie großteils verschwanden, als wäre die Geschichte des Verschwindens ein Teil dieser Krise, ein Teil aller Krisen, als würde das Skelett von alleine stehen. Ich dachte, die historische und gegenwärtige Welt liegt irgendwo zwischen der Remontage ihrer Bilder. Sie ist nie das eine Bild, noch das andere. Sie ist nie alle Bilder.“ Schlafwandler, Schattenwerfer und das Fehlen des Denkmals, Übereinstimmung, Dokument, Nahtstelle: „Was wir anblicken, blickt auf uns zurück. Sehen bedeutet nicht immer gleich verstehen. Es bedeutet, die Montage in die Geschichte einführen, vor Augen führen und benennen. Echte Montage beruht auf dem Dokument. Hier am Ring stehen neue Dokumente, aufgeschnitten, verwüstet und später wieder zusammengenäht. Fotografien, die zeigen, dass der Hass nicht verschwunden ist und sich fortsetzt, aus einer Geschichte, die scheinbar nicht gelernt werden will.“

Und das sich wiederholen (der Bilder), weiße Rose, gebaute Architektur, Kulisse, Bühne, Demokratie und Gleichzeitigkeit der Dinge, Licht, Schatten: „Wir sehen Bilder und ihr Nachleben, alte und neue, die historische Verantwortung vor Augen führen. Dokumente, die etwas über eine Realität aussagen, die wieder Narben trägt.“ Es heißt: „Nicht der Schrift-, sondern der Fotografie-Unkundige wird der Analphabet der Zukunft sein. Wie lesen wir Bilder in Anbetracht der vergangenen?“ (László Moholy-Nagy) Aus der Geschichte lernen? Ob sich auch später jemand an „diese“ vergangene Geschichte erinnert oder wird eine andere, zukünftige Geschichte einen wichtigeren Platz einnehmen? „Die Geschichten, sie sind fragil und man muss aufpassen, wenn man daran arbeitet und sie montiert.“

„Notiz: 13. März 1848, keine weiteren Inschriften. Das Denkmal der ersten Opfer der Märzrevolution am Zentralfriedhof. 40 Jahre nach ihrem Tod wurden sie vom ehemaligen Schmelzer Friedhof hierher verlegt. Ich umrundete das Märzdenkmal hier am Zentralfriedhof und dachte, wie weit reicht es unter die Erdschichten? Es gibt Gedächtnisorte, denen die Einschreibung fehlt, denen das Gedächtnis abhanden kam, weil die Gruppen, die eine Tradition lebendig halten, verschwanden. Diese Räume wandeln von Gedächtnisorten zu Objekten der Historie. Erneut blickte ich auf den Ring, dort, wo ich mich schon öfter hinbewegte und die Augen verlor. Junge Menschen strömten zum historischen Heldenplatz – ein Ort der Geschichte, ein Gedächtnisort. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzte. Ich dachte, dieses Aufblitzen muss Teil eines kollektiven Bewusstseins sein. Und gibt es ein Ende, das uns gefällt?“

Auf der Suche nach dem, was noch sichtbar ist und nach denen, die verstummten, stellt sich die Frage: „Kann man der politischen Ohnmacht entfliehen und ist der Traum vielleicht der richtige Ort dafür? Ein revolutionärer Traum, …“ Und am Ende? (erneut) „Das Ende, ich kann es nicht leugnen, es ist fatal. Die Geschichte, die Revolution, sie ist verhängnisvoll. Sie gehört nicht den Geistern, den Alten und Toten, den Geschichtsbüchern, Historiker*innen, den Schatten, den Archiven (…)“

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