22/04/2024

Die Autorin Bettina Landl nimmt das österreichische Filmfestival Diagonale zum Anlass, um über den Begriff Naturraum als Konstruktion im Film nachzudenken. Die Auswahl fällt demzufolge auf Vorstellungen, die dem Innovativen Kino und dem Dokumentarfilm zugerechnet sind und in denen Landschaft aus ihrer Perspektive die Hauptrolle spielt. Aber was ist mit Landschaft gemeint, was mit Naturraum?

Landl setzt sich mit triadischen Begrifflichkeiten auseinander, zum einen die der Geosphäre, Biosphäre und Anthroposphäre. Interessant ist ihre These zum "spezifischen Raumanspruch… von Grunddaseinsfunktionen, die in einem Wirkungsgefüge untereinander stehen, weshalb es zu raumplanerischen Nutzungskonflikten kommen kann."

Weitere philosophische Triaden bilden die Begriffe des Realen, Symbolischen und Imaginären, mit denen sie sich zu den kinematografischen Anfängen bewegt.

22/04/2024

Schubertkino Vorführkabine, ©Paul Pibernig

Im a bad guy, ©Diagonale, Sebastian Reiser

Auf der Suche nach Bedeutung, die Welt durch logische Konstruktion elementarer, nicht weiter analysierbarer Sachverhalte theoretisch aufbaut, finde ich eine Spur im Lexikon der Geowissenschaften (1). Darin wird erklärt, dass Landschaft die allgemeine Bezeichnung für einen durch einheitliche Struktur und gleiches Wirkungsgefüge geprägten konkreten Teil der Erdoberfläche von variabler flächenhafter Ausdehnung ist; dass geowissenschaftlich die Landschaft als Landschaftsökosystem betrachtet wird, um auf den erdräumlich relevanten Funktionszusammenhang von Geosphäre, Biosphäre und Anthroposphäre hinzuweisen. Das Letzere zeige, dass zu einer Landschaft nicht nur die Naturausstattung, sondern auch deren heutige, vom Menschen geprägte Erscheinungsformen gehören. Daraus ergeben sich verschiedene landschaftliche Grundkategorien wie Urlandschaft, Naturlandschaft oder Kulturlandschaft, die wiederum für sich nach Definitionen fragen und auf die ein genauerer Blick geworfen werden will: Mit der Entwicklung der Landschaftsökologie ging bekanntlich eine jahrzehntelange, aus heutiger Sicht manchmal nur schwer nachvollziehbare Diskussion um den Begriff Landschaft einher. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage, ob die Landschaft als Individuum oder als Typ zu betrachten sei. In der Landschaftsphysiologie wurde die Vorstellung entwickelt, dass die Landschaft die Synthese einer Vielzahl von Einzelelementen darstelle. Dieses Konzept wurde in der naturräumlichen Gliederung später wieder aufgegriffen und gewann für die Landschaftsökologie zentrale Bedeutung. Auch die Frage der Dimension spielte lange Zeit eine wichtige Rolle in der Diskussion um den Begriff der Landschaft.

Dem verwandt ist der Ausdruck Naturraum, der eine durch abiotische und biotische Faktoren und ihr Wirkungsgefüge gekennzeichnete Raumeinheit bezeichnet, die überhaupt nicht oder mehr oder weniger extensiv durch den Menschen beeinflusst sein kann. Von Naturraum ist die Rede, wenn nur die natürlichen Komponenten einer Landschaft (Kulturlandschaft oder Naturlandschaft) gemeint sind. Das Verhältnis zum Naturraum und die Bindung des Menschen an denselben hat sich mit der gesellschaftlichen Entwicklung und dem Wandel der Produktionsweisen wie wir wissen verändert. In den Industrie- und Dienstleistungsländern ist etwa der direkte Bezug zum Naturraum auf die Urlaubszeit und die Naherholung beschränkt, was mittlerweile Diskussionen um Phänomene wie beispielsweise Übertourismus notwendig macht.

Dabei existiert(e) auch eine Urlandschaft – als Realität (vielleicht), aber zumindest gesichert als Idee, Metapher, Möglichkeit. Diese meint eine durch den Menschen unberührte, noch nicht veränderte Naturlandschaft; eine Landschaft also, wie sie sich vor dem Einfluss des wirtschaftenden Menschen präsentiert hat und wie sie heute nur noch in Randregionen der Erde zu finden ist. Eine Naturlandschaft, also eine natürliche Landschaft, eine von menschlichen Aktivitäten unbeeinflusst gebliebene und daher nur vom Zusammenwirken der naturbedingten ökologischen Faktoren bestimmte Landschaft ist der Kulturlandschaft als Begriff gegenübergestellt. In Mitteleuropa gibt es Naturlandschaften nur noch kleinräumig in den höchsten Stufen des Hochgebirges, sofern sie einem strikten Naturschutz unterstehen. Ausgedehntere Naturlandschaften gibt es noch in Randgebieten von Kontinenten mit geringer Bevölkerungsdichte. In den allermeisten Fällen bewegen wir uns jedoch in einer sogenannten Kulturlandschaft, im Singular oder Plural. Gegeben ist diese nicht, sie ist ein Konstrukt, eine vom Menschen beeinflusste, gestaltete oder sogar neu geschaffene Landschaft.

Notiz: Der wesentliche Einfluss des Menschen auf die Landschaft und die Umwandlung derselben zur Kulturlandschaft begann mit dem Einsetzen des Ackerbaus und der Viehzucht. Sie trägt das Gepräge menschlicher Siedlungs- und Bodenkultur und kann in verschiedene Stufen je nach Intensität des menschlichen Einflusses eingeteilt werden und wird nicht durch die natürlichen Faktoren, sondern durch die räumliche Ausprägung der Grunddaseinsfunktionen charakterisiert. (…)

Grunddaseinsfunktionen oder Daseinsgrundfunktionen sind Tätigkeiten und Leistungen, die der Mensch zur Lebensbewältigung benötigt. Es sind dies die sechs Funktionen: Arbeiten, Wohnen, sich bilden, am Verkehr teilnehmen, sich erholen und in Gemeinschaft leben. Die Grunddaseinsfunktionen stehen untereinander in einem Wirkungsgefüge und sind infolge ihres spezifischen Raumanspruches raumwirksam, weshalb es zu raumplanerischen Nutzungskonflikten kommen kann. Die Grunddaseinsfunktionen manifestieren sich wiederum in anthropogenen Nutzungen, die den Siedlungsraum strukturieren und prägen.
 
Doch nun zurück zum Anfang: Erinnern wir uns an (den) Film. Dieser lässt sich lesen, ist visuelle Poesie, macht Begriffliches anschaulich. Visuelle Poesie illustriert. Das führt uns zu seinen Anfängen wie dem Architekten, Kulissenmacher und Theaterregisseur Sergej Eisenstein zum Beispiel, der zum Film wechselte und mit „Streik“ 1925 aus kunsthistorischer Sicht sein erstes überzeugendes Werk drehte, auf das im selben Jahr sein aufgrund der Erzählweise, der Art der Montage und Schnitte erfolgreichster Film „Panzerkreuzer Potemkin“ folgte. Darin folgt dem Chaos der fliehenden Volksmenge die geordnet marschierenden Soldaten, von denen man nur die Beine sieht. Eisenstein hatte als Motto dem Film die Sätze Trotzkis von 1921 vorangestellt: „Der Geist des Aufruhrs schwebt über dem russischen Land. Irgendein gewaltiger und geheimnisvoller Prozess vollzog sich in zahllosen Herzen. Die Individualität ging in der Masse, die Masse ging in dem großen Elan auf.“ So allgemein wie diese Sätze formuliert sind, scheinen sie Eisenstein zu seiner Interpretation der Geschichte inspiriert zu haben. (2) Jeder Film ist eine Verkettung von Handeln, Herstellen und Arbeiten. Solche Verkettungen teilt das Kino mit jeder anderen narrativen oder performativen Darstellungsform, schreibt Rainer Bellenbaum in „Das Kinematographische: Imagination und Vorstellung – Jacques Lacan“. Doch unterscheidet die Kinematografie sich von den anderen handlungsverkettenden Darstellungsformen durch ihre spezifisch kombinierten Mechanismen von Aufnahmen, Reproduktion und Projektion. Es sind dies Mechanismen, in die alle Beteiligten unmittelbar involviert sind, die handwerklichen und organisatorischen Hersteller des Films ebenso wie die deutenden und imaginierenden Betrachter im Kino.
Die triadische Begrifflichkeit des Realen, Symbolischen und Imaginären liefert Lacan ein universales Werkzeug, die Wahrnehmungen und Handlungen sprachfähiger Subjekte als ein immer wieder neues In-die-Welt-Kommen zu analysieren. Sämtliche – nicht mehr intentionalen, sondern auch unbewussten – Regungen und Impulse des Subjekts sind als Dreieckseffekte begriffen zwischen erstens einer symbolischen Ordnung, d.h. den Traditionen, Gesetzen, Maßeinheiten oder Grammatiken einer Gemeinschaft, zweitens den darauf bezogenen imaginären Funktionen, d.h. den mehr oder weniger flüchtigen Vorstellungen einer jeweils affizierten resp. sich konstituierenden Subjektivität, und drittens dem Realen, d.h. den Kontingenzen und Herausforderungen einer symbolisch unbegriffenen Realität. Das technisch konstruierte Bewegtbild bemächtigt sich also der Straßen, der Landschaft, der Interieurs, der Maschinen oder kurzum der objektivierten Praktiken, so dass diese Motive zur imaginären Verfügungsmasse, zur Ware, zur Kulisse für eine neuerlich vor allem über Blickregime auszuhandelnde Distinktion werden. (3)
 
Doch wohin führt (uns) diese Überlegung und Begrifflichkeit? Schlussendlich zu der Frage nach der Bedeutung von Konstruktion selbst. Kann diese doch das Konstruieren, also Entwerfen von Objekten der Technik und Architektur meinen – Entwurf, Gebautes – wie auch Anordnung, das Gefüge von Ideen oder Vorstellungen, Gedankengebäude also und letztlich aus sprachwissenschaftlicher Perspektive die Zusammensetzung eines Satzes, einer Wortgruppe, was uns zum Wesen dieses (und jeden anderen) Textes führt, zu syntaktischen Konstruktionen, zu Sätzen (…), die hatten eine Konstruktion, mit Hauptsatz und Nebensatz.
 

(1)  https://www.spektrum.de/alias/lexikon/lexikon-der-geowissenschaften/570830
(2)  Kunst-Epochen, 20. Jahrhundert I, Reclam 2003, S. 196 f.
(3)  Rainer Bellenbaum, Kinematographisches Handeln. Von den Filmvantgarden zum Ausstellungsfilm, b_books Verlag, Berlin 2013, S. 26 ff.

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