24/10/2023

Kritik befindet sich an der Grenze der Struktur, die wir als Macht-Wissen-Subjekt-Komplex bezeichnen könnten, und die unser Leben, unser Denken und unsere Handlungen bestimmt. Wir tragen diese Struktur in uns, die über Bildungs- und Erziehungssysteme, über Normen und Gesetze in uns gelangt und die für ein gesellschaftliches Überleben als Kommunikationsform notwendig ist. Nichtsdestotrotz erhellt die Kritik die Grenzbereiche der Struktur, ihre Konstruktion, jenseits deren kein Denken und keine Kritik möglich sind.

Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

24/10/2023
©: Severin Hirsch

„Vor allem aber sieht man, daß der Entstehungsherd der Kritik im Wesentlichen das Bündel der Beziehungen zwischen der Macht, der Wahrheit und dem Subjekt ist. Wenn es sich bei der Regierungsintensivierung darum handelt, in einer sozialen Praxis die Individuen zu unterwerfen – und zwar durch Machtmechanismen, die sich auf Wahrheit berufen, dann würde ich sagen, ist die Kritik die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf diese Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung.“ (Michel Foucault, Was ist Kritik? Berlin 1992. S.14f.)

Kritik entspringt Foucault zufolge aus dem Geflecht von Macht, Wissen und Subjekt, die untrennbar miteinander verbunden sind und sich gegenseitig bedingen. Das Subjekt (lateinisch sub: unter, iacere: werfen; im und aus dem Altgriechischen hypokéimenon: das Zugrundeliegende), um sich als solches zu konstituieren, muss sich einer Struktur, bestehend aus Normen, Gesetzen, Konventionen, Prinzipien, Dogmen usw. unterwerfen. Diese Struktur, in der sich die Macht und das Wissen manifestieren, bildet zugleich den normativen Rahmen, die Existenzbedingungen und die Grenze für das Subjekt. Jenseits dieser Grenze hört es auf zu existieren – ähnlich einem Flüchtling, der den einstmaligen Schutz der eigenen Landesgrenzen verlassen muss, um dann in einem rechtsfreien Raum seine Existenz (zeitweilig) auf eine andere Ebene zu transformieren. Der Komplex Macht-Wissen-Subjekt bezieht sich nur oberflächlich auf die Form des Regierens, auf Herrschaft, auf staatliche Macht, letztendlich beinhaltet er ebenso Wissensformen und wissenschaftliche Institutionen, die allesamt dieselben Strukturen in sich tragen. Wissen formt sich nicht nur, es formiert sich sogar und mit dem Wissen, das wir in uns aufnehmen, integrieren wir auch die Struktur. Das mag jetzt für manche vielleicht ein bisschen nach Science-Fiction, nach Matrix klingen und es stimmt sogar ein wenig.

Kritik ist in ihrer historischen Entwicklung für Foucault in erster Linie an die christliche Lehre und religiöse Dogmen gebunden und richtet sich erst als Konsequenz in abgewandelter Form gegen die Menschenregierungskunst als politische Form. Kirchliche Lehren und Dogmen als moralischer Fingerzeig und Wegweiser waren seit jeher Formen der Menschenregierung. Kritik in diesem Umfeld war gleichbedeutend mit einer Auflehnung gegen, einer Nichtanerkennung von kirchlichen Autoritäten und deren Auslegung der Heiligen Schrift. In diesem Sinne hieß Kritik Ungehorsam gegenüber dem „Wort Gottes“ aus dem Mund kirchlicher Autoritäten und bedeutete gleichzeitig eine Hinwendung zur (heiligen) Schrift selbst und eine Abwendung von der hörigen Gemeinschaft. Ein Risiko, das viel Mut und Wissen erforderte. Ein Subjekt, das an der Grenze zur Desubjugation, zur Entunterwerfung steht und seinen Subjektstatus und seine strukturelle Eingebundenheit (als Unterwerfung) riskiert, um in der Sprache Foucaults zu formulieren, um sein Denken zu formieren. Die Subjektwerdung ist die schrittweise Unterwerfung des Individuums innerhalb der Macht- und Wissensstrukturen, und es macht keinen Unterschied, ob diese Strukturen sich auf staatliche, kirchliche oder wissenschaftliche Grundlagen beziehen, ob es sich um das Vatikanische Konzil, den Kanon der Heiligen Schrift, die jeweiligen Regierungen, die staatliche Verfassung, die Wirtschaftsform oder den wissenschaftlichen, universitären Diskurs, die Scientific Community, die Wissenschaftsgemeinde handelt. Der Kanon (als Maßstab, als festgelegte Ordnung) der Autoritäten ist vielstimmig, nicht jede singt dasselbe Lied, aber alle bedienen sich derselben Struktur. Es gibt viele Instrumente des Regierens und ebenso viele zur Unterwerfung.

Mit dem Beginn der Neuzeit beginnt sich im 15. und 16. Jahrhundert die Regierungskunst allmählich von den kirchlichen Dogmen abzulösen und zu differenzieren. „Sodann hat sich diese Regierungskunst in den verschiedensten Bereichen vervielfältigt: wie regiert man die Kinder, wie regiert man die Armen und Bettler, wie regiert man eine Familie, ein Haus, wie regiert man die Heere, wie regiert man die verschiedenen Gruppen, die Städte, die Staaten, wie regiert man seinen eigenen Körper, wie regiert man seinen eigenen Geist? Wie regiert man?“ (Ebda. S. 11.) Geheucheltes Interesse am Wohlergehen des Individuums, um zusätzliche Kontrolle und Überwachung über die Gesellschaft und zu den entlegensten Winkeln ihrer Privatsphäre Zutritt zu erhalten. Die Frage „Wie regiert man?“ impliziert auch deren Negation „Wie regiert man nicht?“ bzw. „Wie will man nicht regiert werden?“, wie auch die Ausdifferenzierung der Regierungskunst eine Differenzierung der kritischen Haltung ihr gegenüber beinhaltet. Nicht von ungefähr fällt auch die Reformation, die Einführung der Geldwirtschaft, Niccolo Macchiavellis Il Principe, Jean Bodin Staats- und Geldtheorie, der maschinelle Buchdruck oder die naturwissenschaftliche Revolution in diese Zeit. Der Beginn der Aufklärung Ende des 17. Jahrhunderts kann durchaus auch als eine erste kritische Reaktionswelle auf die ausdifferenzierten Formen der „Regierungskünste“ als Regierungsintensivierungen gesehen werden. Kants Essay Was ist Aufklärung? Aus dem Jahre 1784 geht vor allem der Frage der Mündigkeit nach, die sich selbstredend gegen den blinden Gehorsam und die Autoritätshörigkeit ausspricht und so zur Stimme der Kritik wird.

Kritik richtet sich niemals an sich selbst, sie richtet nicht einmal, zeigt keine Wege auf, sondern bewegt sich an der Grenze des Systems, der Struktur Macht-Wissen-Subjekt, der strukturellen Gewalt des Unterwerfens. An dieser Grenze weist sie lediglich auf das Zustandekommen, die Funktionsweisen der Struktur hin, verweist auf die undenkbare, grenzenlose Freiheit jenseits der Grenze, außerhalb derer sich das Subjekt ebenso wie die Macht- und Wissensstruktur auflöst. Das Undenkbare jenseits der Grenze ist das Risiko und die Freiheit einer mündigen Kritik, die – selbst von der Struktur zehrend, um überhaupt als Kritik erkannt und wahrgenommen werden zu können – bereit ist, ihr eigenes Dasein aufs Spiel zu setzen. „Man könnte auch sagen, das Subjekt ist gezwungen, sich in Praktiken zu formen, die mehr oder weniger schon da sind. Vollzieht sich diese Selbst-Bildung jedoch im Ungehorsam gegenüber den Prinzipien, von denen man geformt ist, wird Tugend jene Praxis, durch welche das Selbst sich in der Entunterwerfung bildet, was bedeutet, dass es seine Deformation als Subjekt riskiert und jene ontologisch unsichere Position einnimmt, die von neuem die Frage aufwirft: Wer wird hier Subjekt sein, und was wird als Leben zählen, ein Moment des ethischen Fragens, welcher erfordert, dass wir mit den Gewohnheiten des Urteilens zu Gunsten einer riskanteren Praxis brechen, die versucht, den Zwängen eine künstlerische Leistung abzuringen?“ (Judith Butler, Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Band 50, Heft 2. Berlin 2002. S. 265.)

Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit von Kritik, eines kritischen Diskurses, drängen sich für mich Fragen nach der Kritikfähigkeit oder des Kritikverständnisses unserer Gesellschaft in den Vordergrund und warum wir solche Probleme damit haben, mit Kritik von außerhalb unseres Wissens-, Glaubens- oder Gesellschaftssystems umzugehen. Wie kann es sein, dass Slavoj Žižek bei seiner Eröffnungsrede der diesjährigen Frankfurter Buchmesse keine kritische Meinung zur Darstellung des Nahostkonfliktes aussprechen darf, ohne von verschiedensten Seiten vehement angegriffen zu werden, anstatt einen kritischen Diskurs über den Konflikt, dessen Darstellungsweisen, dessen ideologische Propaganda zu eröffnen? Wie kann es sein, dass Helmut Marko den mit 10.000€ dotierten „Gerhard Hirschmann-Preis für kritisches Denken“ erhält, der „Personen oder Personengruppen, die wiederkehrend oder nachhaltig kritische Beiträge zu gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen, ökonomischen oder technologischen Fragestellungen formuliert und damit wertvolle Anstöße für einen öffentlichen Diskurs geleistet haben“ (Auszug aus den Richtlinien für die Zuerkennung des Gerhard Hirschmann-Preises für kritisches Denken. static.kulturserver-graz.at/kultur/pdfs/richtlinie_hirschmann_preis.pdf) gebührt? Ein Affront für alle Kunst- und Kulturschaffenden dieser Stadt, die sich seit Jahren und Jahrzehnten in einem kritischen Diskurs üben, um der Stadt und ihrem Umgang mit den Bewohner:innen zu Verbesserungen und einem offenen Dialog zu verhelfen.

Am 13. Oktober verstarb einer der kritischsten, ungehorsamsten, hellsten und wachsten Köpfe dieser Stadt, Leo Kreisel-Strausz, Mitbegründer des Kulturvereins Rhizom. In diesem, seinem Sinne werden wir die Kritik und den Diskurs aufrechterhalten und kräftig von der Grenze aus, die er nun als Endentunterwerfung endgültig überschritten hat, an der Struktur rütteln. 

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