13/02/2024

„Die Menschheit befindet sich an einem Wendepunkt in ihrer Geschichte. Die Masse der gewonnenen Daten ist erstaunlich. Wir brauchen neue Instrumente, um zu vereinfachen, um zu verdichten, oder Intelligenz wird niemals in der Lage sein, die damit auferlegten Schwierigkeiten zu überwinden oder den Fortschritt zu erzielen, den sie vorhersieht und nach welchen sie strebt.“

(Paul Otlet: Traité de documentation: le livre sur le livre, théorie et pratique. 1934, Übersetzung W.M.)

13/02/2024
©: Zita Oberwalder

M. C. Heymans, Entwurf Mundaneum, 1935, (Screenshot Mraček www.semanticscholar.org)

Mit dem Internet erscheint es uns heutzutage selbstverständlich, Information respektive digitalisierte Dokumente wie Bücher, Bilder, Filme oder Sounds nahezu von jedem Ort und zu jeder Zeit abzurufen. Wenn man bedenkt, dass das 1968 von der US Air Force in Auftrag gegebene ARPANET zunächst Universitäten über ihre Rechner miteinander verband, die im Auftrag des Verteidigungsministeriums forschten, so hat sich dieses ursprünglich rein militärisch genutzte Netz zu einer Art weltumspannendem synthetischen Gehirn entwickelt, in dem nicht zuletzt das Wissen der Welt abgebildet sein könnte.

Dass die „Gutenberg-Galaxie“, die Informations- und Wissensverbreitung mittels Druckwerken, infolge Informationsflut und Entwicklung neuer Medien an ihr praktikables Ende kommen müsste, vermutete nicht allein Marshall McLuhan in den 1960er Jahren. Nachdem erst mit den Arbeiten des australischen Bibliothekswissenschafters Boyd Rayward und seinem Buch The Universe of Information. The Work of Paul Otlet for Documentation and International Organisation (Moskau 1975), das bis dato eigentlich vergessene Werk des Belgiers Paul Otlet wieder gehoben werden sollte, konnte der ähnlich argumentierende McLuhan nicht wissen.

Der in Brüssel geborene Paul Otlet (1868-1944) stammte aus einer Industriellenfamilie und war damit zeit seines Lebens finanziell unabhängig. Nach dem Jurastudium war Otlet Mitarbeiter des Rechtsanwaltes und Schriftstellers Edmond Picard. Der beauftragte ihn mit der Einrichtung einer Bibliografie zur Rechtsprechung. In Zusammenarbeit mit dem späteren Friedensnobelpreisträger Henri La Fontaine gründete Otlet daraufhin 1885 das Office International de Bibliographie und die beiden machten sich an die Indizierung aller erdenklicher „Fakten“ aus und über Publikationen mittels Karteisystem, das sie Répertoire Bibliographique Universel nannten. Geplant war infolge ein Aufbewahrungsort allen verfügbaren Wissensbestandes, der mit 1935 auch in die Planung eines – nicht errichteten – Bauwerks namens Mundaneum führen sollte. Otlet konsultierte dafür die Architekten Hendrik Christian Anderson, Le Corbusier und Maurice Heymans. Sitz der Encyclopedia Universalis Mundaneum war zunächst das Palais Mondial in Brüssel. Nach Kontakt und einem Treffen mit Otto Neurath – aufgrund dessen Entwicklung der Wiener Methode der Bildstatistik – wurde im Jahr 1931 eine Zweigstelle des Mundaneums in Wien gegründet, im Jahr darauf richtete Neurath das Mundaneum Institut in Den Haag ein. Mit Le Corbusier hatte Otlet schon ab 1927 auch eine Dependance für Genf überlegt, die Börsenkrise ab 1929 machte dem allerdings ein Ende.

Das Brüsseler Mundaneum wurde im Zuge des Einmarsches der Nazis 1940 aufgelöst und seine Bestände verstreut. Neu eingerichtet und 1998 eröffnet, befindet sich das rekonstruierte Mundaneum heute im belgischen Mons.

Um den Wissensbestand der Menschheit zu dokumentieren beziehungsweise Bibliotheken via Metadaten, die auf Inhalte verweisen, miteinander zu verbinden, adaptierten Otlet und La Fontaine zunächst ein System, wie es Gottfried Wilhelm Leibniz noch im 17. Jahrhundert entwickelt hatte. Dessen Dezimalklassifikation für die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel war ein Schema, die Bücher nach Exzerpten und Verschlagwortung (Indexierung) zu ordnen – Schriften zur Wissenschaft, zum Recht, zur Kunst. Jedem Bereich wurden Unterkategorien zugeordnet, diese wieder kategorisiert und so fort. Otlets weiter entwickeltes System der Classification Décimale Universelle – Millionen von Dateikarten mit Querverweisen auf Dokumente, vermittelbare Metadaten in Form mathematischer Kürzel – sollte nun den internationalen Gebrauch ermöglichen. Zudem bestand bald auch eine in gleicher Weise organisierte Bilddatenbank. Über einen internationalen Suchdienst konnten postalisch und telegraphisch Anfragen an das Mundaneum gestellt werden. Für fünf Centimes pro ausgehobener Dateikarte, wurden 1500 Anfragen zu diversen Themen allein im Jahr 1912 gestellt. Die Anfragen wiederum wurden in das sukzessiv vernetzte und erweiterte Datensystem eingepflegt.

In seinem Traité de documentation (1934) dachte Paul Otlet betreffend Dokumentation und Vernetzung von Schriftstücken schon nahezu in unsere Zeit voraus. Angesichts medialer Neuerungen wie Telegrafie, Telefonie, Funk, Kino und Schallplatten überlegte er die Integration von neuen Datenträgern und stellte Möglichkeiten in Aussicht, Dokumentationen wie Informationen mittels neuer Technologie überregional abrufen zu können. Was in Otlets Mundaneum zwar nicht mehr zum Einsatz kommen sollte, wurde dennoch schon in einem 1907 mit Robert Goldschmidt verfassten Essay (Sur une forme nouvelle du livre, in: Bulletin de L’Institut International de Bibliographie) thematisiert: die „photographische Reproduktion von Druckschriften“ mittels Mikrofilm als „Buch von morgen“ beziehungsweise „als neue Form des Buches“. Das neue Medium werde die Funktion der Bibliotheken verändern, vermutete Otlet, Kopien und die damit verbundenen Zugriffsmöglichkeiten würden zu einer neuen Art des Publizierens führen.

Im Traité skizzierte Paul Otlet somit ein weltweites Wissensnetz. Buchinhalte vor allem sollten auf manipulierbare Datenspeicher, sogenannte „Arbeitsmöbel für Ingenieure“, ausgelagert werden. Seine Zeichnungen zeigen eine Art Multimedia-Apparat, Mondothèque genannt, über den man Informationen suchen könnte. Der Schreibtisch der Zukunft werde mit Bildschirmen ausgestattet sein. Über Telegrafenleitungen, die mit den wichtigsten Bibliotheken und Datenzentren der Welt verbunden sein werden, wird man über Tastaturen Suchanfragen stellen können. Sollten Antworten in unterschiedlichen medialen Formen – Bild, Text, Klang – eingehen, würde sich der Bildschirm in mehrere „Fenster“ teilen.

 

________Literatur:

Frank Hartmann, Hg.: Vom Buch zur Datenbank. Paul Otlets Utopie der Wissensvisualisierung. Berlin 2012, S. 11-61

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