09/01/2024

Die Kolumne Wolkenschaufler von Wenzel Mracek zu Lebensraum, Kunst und Kultur(-politik) erscheint jeden 2. Dienstag im Monat auf GAT.news

09/01/2024

Theresa Cos, „The Measure of Disorder“, 3-Kanal Video-, Audioinstallation, 2018 

©: Wenzel Mraček

Martin Osterider, „MANUAL / (STILL-LIFE)”, 2022/23 

©: Wenzel Mraček

 Olia Fedorova, „Land and Sky of Kharkiv“, 2022 

©: Wenzel Mraček

Meta Grgurevič, „Dancing Dress“, 2016-2019 

©: Wenzel Mraček

Anaïs Horn, „Longing Ghosts in Deep Blue Paranoia“, 2021-2022 

©: Wenzel Mraček

Sebastian Supanz, „Everything’s changing“, Wolle auf Leinwand, 2023

©: Wenzel Mraček

Mein Versuch einer saloppen Erklärung: In einem (geschlossenen) System führen immanente Prozesse zur Anordnung von Teilchen, die der Physiker Ludwig Boltzmann Mikrozustände nannte. Als Entropie wird das Maß erfassbarer Mikrozustände in einem System bezeichnet. Erreicht die Entropie ihren größtmöglichen Wert, so befindet sich ein System im Gleichgewicht und ist irreversibel.

Die Grazer Kuratoren Margarethe Makovec und Anton Lederer leiten die von ihnen arrangierte Ausstellung im Kunsthaus Muerz mit einer Definition nach The Free Dictionary ein, wonach die physikalische Größe Entropie in Verbindung mit Boltzmanns Untersuchungen um „mechanische Wärmetheorie und Wahrscheinlichkeitsrechnung“ auch als „Maß für die Unordnung oder Zufälligkeit in einem geschlossenen System“ umschrieben werden kann. Begreift man solche Darstellung nun wie einen axiomatischen Leitsatz und nähert sich assoziierend von der Naturwissenschaft dem poetischen (d.h. „machenden“) Gebiet der bildenden Kunst, wird der Ausstellungstitel Die Zeit zerfällt oder Das Maß an Unordnung angesichts versammelter Werke durchaus plausibel.

Leiten ließen sich die Kuratoren von der zentralen Arbeit der italienischen Künstlerin Teresa Cos. The Measure of Disorder (2018) erzählt in einer Dreikanal-Audio/Video-Installation von Ludwig Boltzmanns letzter Zugreise 1906 von Wien nach Duino. Der geplante Erholungsaufenthalt des „seelisch sehr sensiblen“ (Biografie Ilse Boltzmann Fasol über ihren Großvater) Professors an der Wiener Universität endete mit dessen Selbstmord.

Cos‘ Installation besteht vor allem aus zwei gleichen und gegenläufigen Videos einer Zugfahrt über den Semmering und durch die Alpen, wobei ein zeitlicher Verlauf scheinbar – und zugleich – umgekehrt wird, als wären die Abläufe doch umkehrbar.

Die Assoziationen führen weiter, etwa in eine Installation mit Fotografien des Grazers Martin Osterider unter dem Titel MANUAL / (STILL-LIFE) (2022/23), in der Aufnahmen von abgerissenen Plakaten, Überbleibsel respektive Müll im Stadtraum in verschiedenen Formaten zu sehen sind. Die Auflösung von quasi Ordnungssystemen oder die andere Seite einer Gesellschaft sind hier bezeichnet durch Randerscheinungen, die, wiederum aus Sicht des Künstlers, in einer subjektiven Ordnung kumulieren.

Auf zwei Papierbahnen stellt die in Graz lebende Ukrainerin Olia Fedorova die Abstraktionen des nächtlichen Sternenhimmels über Charkiw den infolge des Krieges verminten Landstrichen gegenüber. In Land and Sky of Kharkiv (2022) gleichen die gezeichneten Sterne den gezeichneten Explosionen auf einer, nach dem Spiel Tempelhüpfen strukturierten Fläche.

Auf Virginia Woolfs Roman Die Fahrt zum Leuchtturm verweist ein Dancing Dress (2016-2019) der slowenischen Künstlerin Meta Grugurevič. Ein Kleid, das sich zu Musik dreht, erinnert an tanzende Derwische und deren Suche nach Erleuchtung (wenn nicht an aufklärerisches Enlightenment) und der (Los-)Lösung von allem Materiellen.

Neben Arbeiten von weiteren Künstlerinnen und Künstlern steht in der vormaligen Apsis des Kunsthauses die Installation der in Paris lebenden Grazerin Anaïs Horn. Auf Spiegel affichierte Fotos, ein Fotodruck (Fenster) auf Satin, ein Fauteuil und eine Videoprojektion auf transparentem Chiffon werden zur Paraphrase auf Charlotte von Belgien. Nach ihrer Hochzeit 1857 mit Maximilian von Österreich und nach dessen Hinrichtung in Mexico lebte sie, für wahnsinnig erklärt, im Schloss Miramare. Horns Longing Ghosts in Deep Blue Paranoia (2021-2022) mutet an wie die Materialisierung eines (Alb-)Traumbildes.

„And now for something completely different ...“, wie die Schöpfer der Ritter der Kokosnuss andernorts zu sagen pflegten. In der anliegenden Galerie des Kunsthauses Muerz zeigt der in Neuberg an der Mürz und in Wien lebende Sebastian Supanz Malerei in vom Wolkenschaufler bisher nicht gesehener Technik. Wool Paintings, polychrome gefilzte Wolle auf Leinwand, ergibt stark konturierte, reliefartige Strukturen. In Anklängen an die vom Künstler in der Kindheit gelesenen Erzählungen handeln die Bilder weitgehend von Rittern. Für neueste Kompositionen füttert Supanz KI-Programme mit bisherigem, eigenem Material und setzt die Ergebnisse in Filz um. In dieser Konstellation erscheint die Frage um Autorschaft – Mensch oder Maschine – wohl obsolet. „Alles verändert sich“ ist ein bezeichnender Bildtitel.

 

Im Kunsthaus Muerz bis 18. Februar 2024: 
Die Zeit zerfällt oder Das Maß an Unordnung

In der Galerie Kunsthaus Muerz bis 18. Februar 2024:
Sebastian Supanz, Wool Paintings

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