23/08/2018

Seit 2003 ist GAT online. Tausende von Artikeln haben sich im (virtuellen) Archiv angesammelt. Informatives, Kritisches und Unterhaltsames. In erster Linie Themen zur Architektur natürlich, aber vieles führt auch zu den Rändern und darüber hinaus zu anderen Disziplinen. GAT ist nicht nur von ArchitektInnen für ArchitektInnen gemacht.

Aus dem GAT-Fundus für die Sommerreprise 2018 geholt:

Das Kunsthaus auf der Couch!

Im März 2006 – das Kunsthaus Graz war noch nicht einmal ganze drei Jahre alt – wurde es im Rahmen eines Symposiums unter dem Titel Das Kunsthaus und das Aufwachen der Fantasie – Psychoanalytischer Diskurs sozusagen psychiatriert.
Es ist ein Star mit komplizierter Herkunftsgeschichte und schwieriger Geburt, so Ute Angeringer-Mmadu anno 2006.

23/08/2018

"der bonbonfarbene, tangerinblau gespritzte stromlinienpudding" von Gernot Stangl aus dem GAT sonnTAG 005

Anlässlich des 150. Geburtstages von Sigmund Freud wurde das Kunsthaus im Rahmen eines in seinem Inneren veranstalteten Symposiums mit dem Titel Zeichen der Psyche von Samy Teicher und Jan Tabor auf die Couch gelegt. Vom 31. März bis 1. April 2006 loteten Psychoanalytiker, Philosophen, Psychologen, Architekturtheoretiker und Kunsthistoriker die Spannungsfelder zwischen Psychoanalyse und Kunst aus. Die unterschiedlichen Auffassungen von Psychoanalytikern und professionellen Kunstbetrachtern sorgten für spannende Dialoge der vom Kunsthaus gemeinsam mit namhaften Institutionen der Psychoanalyse, Medizinische Psychologie, Psychotherapie, veranstalteten Reihe.
Kunstschaffende geben mit ihren Werken Anteile ihrer Persönlichkeit preis und scheinen damit geradezu prädestiniert für die Analyse ihrer Psyche: Freud selbst unterzog in seiner Betrachtung Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci den großen Meister der Analyse. In seiner Deutung des Bildes der Hl. Anna erkannte Freud in der Verschmelzung der zwei Frauen da Vincis Beziehung zu seinen zwei Müttern und leitete daraus dessen unerfüllte homosexuelle Neigungen ab. Damit war der Weg frei für die psychoanalytische Deutung von Kunst, die ihrerseits mittlerweile wiederum genügend Stoff zur kritischen Betrachtung gibt.
Salvador Dali war schlauer: Er kannte Freud und widersetzte sich mit seiner Kunst allen gängigen Vorstellungen und lässt uns auch heute noch vor "Riesige fliegende Mokkatasse mit unerklärlicher Fortsetzung von fünf Metern Länge" analysieren – zu sehen in der Ausstellung: Die Götter im Exil.
In diesem Rahmen wurde auch dem Kunsthaus selbst psychoanalytische Beachtung zuteil: Jan Tabor, Architekturtheoretiker, Kurator, Kulturpublizist und Ausstellungsmacher sowie Samy Teicher, Diplompsychologe, Klinischer - und Gesundheitspsychologe sowie Psychoanalytiker, gestalteten gemeinsam eine therapeutische Sitzung mit einem Klienten namens Kunsthaus: Das Kunsthaus und das Aufwachen der Fantasie. Psychoanalytischer Diskurs.
Das Kunsthaus ist ein Star mit komplizierter Herkunftsgeschichte und schwieriger Geburt: mit seinen vielen Vätern und Großvätern – über seine Mutter weiß man eigentlich nichts – stand es schon vor seiner Geburt im Rampenlicht und war vielen ungünstigen Rahmenbedingungen ausgesetzt. Es entsprach nicht den Erwartungen und hatte immer schon viele Neider. Ein interessanter Fall also.
Jan Tabor und Samy Teicher nähern sich ihrem Klienten von außen, feststellend, dass das Kunsthaus auf einem Sockel liegt und es gar nicht so einfach ist, Eingang in sein Inneres zu finden: durch die Drehtür über den Shop oder über das Gasthaus. Die Therapeuten entscheiden sich für Zweiteres. Sogleich stellt sich die Frage für den Kunsthausbesucher: Was steht am Anfang eines Kunstgenusses? Der Kaffee. Aber ist man nun schon im Kunsthaus?
In sein eigentlich Inneres gelangt man bekannterweise über die Pin, die Rolltreppe – eigentlich eine Rollrampe (Anm.). Diese Tatsache schafft Raum für vielfältige Assoziationen: ist es die einen ganz einfach das "Flughafen-Feeling", machen sich die Therapeuten Gedanken über das "passive Fortschreiten" sowie den Begriff des "Fort - Schrittes" bei Peter Sloterdijk (* 1947, deutscher Philosoph und Schriftsteller, Anm.).
 Oben angekommen, schätzt der Psychologe das Außergewöhnliche: flexible Trennwände und frei geformte Außenwände. Wiewohl man einwenden könnte, dass der eigentlichen freien Form hier ihre Grenzen gesetzt sind.
Wirklich spannend wird der Diskurs aber im Space01, ganz oben also. Hier beginnt der eigentliche psychoanalytische Diskurs: Assoziationen mit der Form – die Mutterbrust, ganz im Sinne Freuds und dazu die psychoanalytische Betrachtung der Nozzles oder Warzen.
 Nach Wilfred R. Bion (1897-1979, engl. Psychoanalytiker) versteht der Säugling das Hungergefühl als böses Objekt außerhalb seiner selbst. Über den Stillvorgang wird das böse Objekt, der Hunger also, in die Mutter ausgespieen. Diese ist dann imstande über dieses Böse zu transformieren, das heißt, die unverdaulichen Beta-Brocken in genießbare Alpha-Elemente umzuwandeln.
Diese Mutterbeziehung ist in jedem Kunstwerk wirksam und macht auch die Attraktivität unverständlicher Kunstwerke aus. In diesen werden jene unverdaulichen Elemente vom Künstler, stellvertretend für uns, verdaulich gemacht – so lautet eine der psychoanalytischen Betrachtungsweisen von Kunst.
Ist nun das Kunsthaus Mutter oder Säugling?
 Die Betrachtung dieser Frage übersteigt die Länge einer therapeutischen Sitzung. Schließlich werden die Therapeuten dazu gedrängt, sich an das therapeutische Setting, das auch den zeitlichen Rahmen inkludiert, zu halten. Doch wie wieder hinausfinden aus dem Innersten? Das Thema Stiegenhaus, das den Hinauswollenden betrifft, diesmal muss er selber schreiten, wäre Thema einer eigenen Sitzung, stößt man doch ständig auf Aufschriften wie Kein Eingang, Zutritt nur für Mitarbeiter ...

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