02/09/2024

In Graz wird die (Nach)Verdichtung immer weniger von der Stadtplanung gesteuert. Gerade in Gebieten mit geringer Bebauung sind Investoren federführend, die ihre Interessen gegen die Nachbarn und zulasten des Gebietscharakters durchsetzen wollen. Beim Bauprojekt Engerthgasse 1 werden sie dabei auch von städtischen Behörden unterstützt – durch mangelhafte städtebauliche Gutachten, die wiederum von der Baubehörde unkritisch übernommen werden. Beides ist rechtlich fragwürdig, doch nachdem auch die Politik diesem willkürlichen Treiben tatenlos zusieht, können sich Betroffene nur juristisch wehren.

Das ist der fünfte Beitrag aus der Serie "Die Gier der Investoren kennt keine Grenzen". 

02/09/2024

Bauplatz Engerthgasse 1, Graz, 2024

©: DI Richard Hummelbrunner

Lageplan Bauvorhaben Engerthgasse 1

©: Stadt Graz - Stadtplanungsamt

Bild 2: Luftbild der Umgebung des Bauprojekts

©: Stadt Graz - Stadtplanungsamt

Bebauung Andritzer Reichsstrasse in unmittelbarer Nähe, Graz, 2024 

©: DI Richard Hummelbrunner

Neubau an der Andritzer Reichsstrasse (nähe Bauplatz), Graz, 2024

©: DI Richard Hummelbrunner

Die Nachverdichtung in Gebieten mit dominanter Einfamilienhausbebauung hat in Graz bereits problematische Ausmaße angenommen: 2023 ergab eine Auswertung geplanter Wohnprojekte einen Verdichtungsfaktor von 1:23 – rund 5.000 Wohneinheiten anstelle von 220 Einfamilienhäusern oder Villen (1)! Eine derart maßlose Verdichtung bedroht zwangsläufig die Wohn- und Lebensqualität der Anrainer:innen. Das gegenständliche Beispiel ist deswegen besonders anschaulich, weil Anliegen betroffener Nachbarn durch rechtlich bedenkliche Vorgehensweisen der Behörden gezielt aushebelt werden. 

Mangelhaftes städtebauliches Gutachten

Die Beurteilung des Bauvorhabens durch die Stadtplanung weist gravierende fachliche Mängel auf. Die Begründung besteht primär aus Verweisen auf die übergeordneten Planwerke (STEK, Räumliches Leitbild) statt einer detaillierten städtebaulichen Analyse. Diese hätte zumindest die realen Gebäudehöhen und Bebauungsdichten der angrenzenden Grundstücke erfassen müssen (v.a. im Dreieck Engerthgasse – Gerstnergasse – Andritzer Reichsstrasse). Denn nur auf dieser Grundlage kann die Ergänzung der bestehenden Baustrukturen durch das gegenständliche Bauprojekt adäquat beurteilt werden.

Das geplante Wohnhaus umfasst ein Erdgeschoss und 3 Obergeschosse mit insgesamt 15 Wohneinheiten. Entlang der Andritzer Reichsstraße gibt es im Umfeld keine ähnlich dimensionierten Bauwerke – mit Ausnahme von zwei alten, von der Umgebung allerdings weit abgerückten Wohnhäusern der Andritz AG. Das Räumliche Leitbild 1,0 verlangt für diesen Teilraum eine geschlossene oder gekuppelte Bauweise, das Projektvorhaben sieht hingegen eine offene Bebauung vor. Die entlang der A. Reichsstraße geplante Fassade weist eine durchgehende Länge von ca. 42 m Länge ohne irgendeine gestalterische Unterbrechung auf. Dies steht in krassem Gegensatz zur kleinteiligen Strukturiertheit des umgebenden Altbestandes an Einfamilienhäusern, aber auch der neuen Wohngebäude.

Dennoch stellt das städtebauliche Gutachten fest: „Das geplante Wohngebäude entspricht in seiner Baukörperlage, Gliederung und Höhenentwicklung sowie der geplanten Fassaden- und Außenraumgestaltung in seiner gestalterischen Bedeutung dem bestehenden Straßen-, Orts- und Landschaftsbild“.

Ohne eine städtebauliche Analyse ist diese Begründung allerdings eine bloße Behauptung ohne faktische Grundlage. Das dürfte auch der Stadtplanung gedämmert sein, denn sie bemüht auch noch eine Ausnahmebestimmung des Räumlichen Leitbilds, mittels der Widersprüche zur umgebenden Bebauung aufgelöst werden können: „Aufgrund der Bebauungsweise der Bestände auf den angrenzenden Liegenschaften sowie des Zuschnitts des gegenständlichen Bauplatzes kann die Ausnahmebestimmung gem. § 9 (2) des 1.0 RLB herangezogen werden.“ Die für eine derartige Ausnahme erforderlichen städtebaulichen Kriterien sucht man jedoch im Gutachten vergebens, es wird lediglich auf die übergeordneten Planwerke verwiesen.

Das städtebauliche Gutachten ist weder vollständig noch schlüssig und kann daher nicht für eine positive Beurteilung des Bauvorhabens herangezogen werden. Dies entspricht auch der geltenden Rechtsprechung, belegt durch eine Reihe einschlägiger Entscheide des VwGH (2), in denen die juristischen Anforderungen an Gutachten präzisiert werden: „Eine sachverständige Äußerung, die sich in der Abgabe eines Urteils (eines Gutachtens im engeren Sinn) erschöpft, aber weder die Tatsachen, auf die sich dieses Urteil gründet, noch die Art, wie diese Tatsachen ermittelt wurden, erkennen lässt, ist mit einem wesentlichen Mangel behaftet und als Beweismittel unbrauchbar.“ 

Baubehörde übernimmt mangelhafte Gutachten

Die Mängel des Gutachtens wurden von Anrainer:innen schriftlich bei deren Einwendungen und mündlich bei der Bauverhandlung eingebracht. Es wurde auch eine Vertagung der Bauverhandlung samt Nachbesserung des städtebaulichen Gutachtens beantragt. Dies wurde von der Verhandlungsleiterin jedoch mit der Begründung abgelehnt, dass die Baubehörde nur das Vorliegen von Gutachten prüfe, nicht jedoch deren fachliche Qualität.

Diese Vorgehensweise ist jedoch nicht im Einklang mit der geltenden Rechtsprechung. Die oben zitierten VwGH Entscheide enthalten auch Aussagen über die Verwendung von Gutachten: „Die Behörde, die eine so geartete (d.h. mangelhafte) Äußerung ihrem Bescheid zugrunde legt, wird nicht ihrer Pflicht zur Feststellung des für die Erledigung der Verwaltungssache maßgebenden Sachverhaltes gerecht.“ Die Bau- und Anlagenbehörde hätte demnach sehr wohl die Verpflichtung, die verwendeten Gutachten auf ihre Qualität und Vollständigkeit zu überprüfen.

In Bezug auf die Entsprechung mit dem Stadt- und Ortsbild hat der VwGH darüber hinaus festgestellt (3), dass „das Stadt-/Ortsbild anhand des (konsentierten) vorhandenen Bestandes zu beurteilen ist, insoweit ihm ein Mindestmaß an gemeinsamer Charakteristik (wenn auch nicht vollständiger Einheitlichkeit) eigen ist, welche den (notwendigen) Maßstab dafür bildet, ob ein Bauvorhaben dieses Stadtbild (Ortsbild) beeinträchtigt“: Dieser Bewertungsmaßstab wurde aber in diesem Fall nicht herangezogen – ein Umstand, der der Baubehörde bei einer angemessenen Würdigung des städtebaulichen Gutachtens auffallen hätte müssen!

Politisch Verantwortliche sind jetzt am Zug

Baubescheide, die sich auf offenkundig mangelhafte Gutachten stützen, sind von Nichtigkeit bedroht, was wiederum rechtliche Konsequenzen für die beteiligten Behörden hätte und zu erheblichen Verfahrensverzögerungen führen könnte. Gestützt auf die oben erwähnten höchstgerichtlichen Erkenntnisse wollen Anrainer:innen im gegenständlichen Fall den Baubescheid beeinspruchen.

Darüber wurden auch die betreffenden städtischen Ämter sowie die politisch Verantwortlichen bzw. deren politische Büros informiert. Dabei wurde nicht nur auf die bestehende Rechtslage verwiesen, sondern auch auf die für Betroffene höchst unbefriedigende Situation bei (nicht nur) diesem Bauverfahren: Nachbar:innen, die auf Grund des geltenden Baugesetzes ohnehin nur mehr sehr eingeschränkt Rechte im Bauverfahren geltend machen können, sind obendrein der Willkür städtischer Behörden ausgeliefert.

Die bisherigen Reaktionen waren jedoch verhalten und man sieht man vor allem keinen Anlass für eine Kurskorrektur. Dabei wäre insbesondere die Politik gefordert, für eine rechtlich einwandfreie Vorgangsweise in der Verwaltung zu sorgen! Und für ein schlüssiges Gesamtkonzept bei der (Nach)Verdichtung in Gebieten mit geringer Bebauung. Denn ohne fundierte städtebauliche Betrachtung verkommt sie zu einem Flickwerk und zu einer Lotterie – abhängig vom „Geschick" der Investoren, ihre Interessen gegen Anrainer:innen und zulasten des Gebietscharakters durchzusetzen.

_______Quellen
(1)    Quelle: Initiative für ein unverwechselbares Graz http://www.unverwechselbaresgraz.at/wp-content/uploads/2023/01/EFH-Wohnprojekte-in-der-pipeline-Jaenner-2023.pdf
(2)    Zum Beispiel VwGH 2002/06/0151, 84/12/0221 und 93/10/0012
(3)    Zum Beispiel VwGH 2002/05/1017 und 2005/05/0119

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