In einer Gegenwart, die als ideologiefrei verkannt wird, muss auch der Stellenwert der Architektur neu ausverhandelt werden. Die Abkehr von regulativer, transdisziplinärer Kritik und die Zunahme neoliberaler Einflussnahme beherrschen die Branche. Dies führt zu einem fundamentalen Shift in der Disziplin, der ästhetische, kulturelle, programmatische und nicht zuletzt kritische Prinzipien erodieren lässt.
Durch die Analyse von Postmoderne, Dekonstruktivismus, Criticality, Post-Criticality und den dazugehörenden Architekturschaffenden wird eine analytische Grundlage geschaffen, aus der heraus eine neue, pragmatische Kritik vor dem Hintergrund des metamodernen Theorems generiert werden kann. Diese Dirty Critique gebärdet sich als eine inhaltliche, strukturelle und nicht mehr nur rein ästhetische Kritik, sowie vor allem als eine praxisorientierte und moralische Haltung. Sie verweist auf eine Rückkehr zu den moralischen und verantwortungsvollen Aspekten in der Architektur und greift das Verlangen nach einer Erklärung für die jüngsten Entwicklungen in der tagtäglichen Praxis auf, welche sich immer mehr vom schöpferischen, reflektierten Handeln wegbewegt hin zu einer Dienstleistung als quantifizier- und reproduzierbare Ware.
Aus den Untersuchungen und Überlegungen heraus ergaben sich Strukturen ideologiekritischer Methoden und Potenziale im zeitgenössischen Architekturprozess, wobei die ideologiekritische Methode eine in der Praxis manifestierte Reaktion meint, die kritisch und niederschwellig ein Problem thematisiert und mögliche Lösungen dafür nicht nur bedenkt, sondern auch Realität werden lässt. Bezüglich ideologiekritischem Potenzial versucht diese Arbeit zu eruieren, welche Wege (ob schon verworfene oder noch nicht erschlossene) es für Architekturschaffende zu beschreiten gibt und gilt.
Für eine theoretische Auseinandersetzung im Feld der Architektur, verschränkt mit anderen Disziplinen, muss eine fundierte Basis der einzelnen, notwendigen Teilwissenschaften geschaffen werden. Im konkreten Fall bedeutete dies die Wissensaneignung aus den Geisteswissenschaften (Ideologietheorie, Ideologiekritik) und der Wirtschaftstheorie (Neoliberalismus). Die Erkenntnisse aus diesem Arbeitsschritt wiesen einige Parallelen zur Architekturtheorie auf – vor allem in Bezug auf den hohen Stellenwert der Bewusstseinstheorie, der (subjektiven und objektiven) Wahrnehmung und Semantik. So sind diese Bereiche sowohl in der Ideologietheorie als auch in der Wirtschaftstheorie und der Architektur vertreten, was schließlich dazu führt, dass sie nicht nur gut „miteinander können“, sondern auch fließend ineinander überlaufen können.
Aus der kritischen Auseinandersetzung mit den Funktionsweisen des Neoliberalismus als die Ideologie der Gegenwart und der zusätzlichen Betrachtung der starken Tendenz hin zum Posthumanismus wurden die Argumente für und gegen ideologische Architektur näher beleuchtet. Diese Gegenüberstellung kulminierte in einem Versuch des Nachweises der Verschränkung neoliberaler Denkansätze und Strukturen mit Aussagen und Analysen aus dem zeitgenössischen Architekturdiskurs, die nicht mehr von der Hand zu weisen ist.
Für die Untersuchung ideologiekritischer Tendenzen in der Architektur war eine Quasi-Übersetzung der Ideologietheorie und des Kritik-Begriffs in den Architekturdiskurs notwendig. In letzterem gibt es nämlich eine breite, heterogene Auffassung und lange Tradition von Kritik bzw. kritischer Haltung und Handlung, hauptsächlich bezogen auf die Ästhetik, während die Ideologietheorie, ihrer geisteswissenschaftlichen Basis geschuldet, eine Kritik per se auf inhaltlicher Ebene ableitet. Dazu wurden die unterschiedlichen Haltungen zur kritischen Architektur untersucht und das Resümee gezogen, dass eine rein ästhetische Kritik nicht den Ansprüchen einer neoliberalen Ideologiekritik genügt. Daher müssen sich Architekturschaffende, abseits ihrer wirtschaftlich mittlerweile stark ausgeprägten Rolle, wieder einer inhaltlichen Kritik zuwenden und vor allem auch nicht vor politischer und gesellschaftlicher Verantwortung zurückschrecken, um dies bewerkstelligen zu können.
Mit der Annahme der Ideologietheorie, wonach jedes Subjekt und jedes Objekt kontextabhängig ist und nicht isoliert betrachtet werden kann, wird auch die Möglichkeit einer ideologiefreien Architektur negiert, auch wenn der Ansatz Aldo Rossis zu autonomer Architektur ein eindrucksvolles Beispiel dazu darstellt, wie sich Architektur selbst weitestgehend auch auf ästhetischer Ebene zurücknehmen kann.
Auch die Hypothese, dass es ideologiekritische Architektur gibt und sie auf mehr Ebenen stattfindet, als bloß auf der visuell-räumlichen, konnte, aufbauend auf der Analyse des ästhetischen und politischen Kritikbegriffs aus dem Architekturdiskurs, mit Argumenten untermauert werden, wenngleich das mögliche Potenzial die aktuell angewendeten Methoden deutlich zu übersteigen scheint. Die ständige Beschäftigung in der Architektur mit der Kritik führt prinzipiell zu einem sensibilisierten Umgang mit dieser – sowohl als autonome Kunst als auch als alltägliche Manifestation. Mit der Analyse von als ideologiekritisch zu bezeichnenden Handlungen und Ansichten kristallisierten sich einige Vorgehensweisen heraus, die zusammengefasst werden können zu Kategorien von Methoden bzw. Potenzial.
Die Analyse der Argumente für und wider ideologiefreier Architektur zeugen davon, dass es wieder eine neue – ideologiekritische–, eine Dirty Critique braucht – als Regulativ und als Diskursform gleichermaßen. Nachdem es zwar Ansätze einer neuen, praxisorientierten Kritik gibt, müssen diese aber auch eine breite Anwendung finden. Die Legitimation erhält diese Kritik durch das Freilassen der Theorie auf die Praxis, durch das Verschlungenwerden vom neoliberalen System und letztlich durch das Ausgeschiedenwerden.
Durch mangelnde ideologische Sensibilisierung ist auch ein Defizit in diesem Bereich in der Lehre spürbar, das den nachfolgenden Generationen von Architekturschaffenden als schwerwiegender Ballast in ihrem Rucksack mitgegeben wird und tendenziell eine unkritische Haltung reproduziert. Wichtig wäre hingegen zu erkennen, wie etwas tatsächlich ist, und die Möglichkeit der Reflexion zu besitzen darüber, wie etwas sein könnte. Aus dieser Diskrepanz heraus entsteht das Potenzial, welches Wandel ermöglicht.
Eine Wiederaufnahme von Kritik in die Curricula der Architekturfakultäten ist ein begrüßenswerter, nachhaltiger Schritt zu einem reflektierten Umgang mit der Lehre und den Vorbildern der Disziplin. Eine eigenständige Auseinandersetzung, analytische, ästhetische, politische und Gesellschaftskritik sind Grundpfeiler einer aufgeklärten Architekturarbeit, die ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung sein soll. Eine bewusste Haltung zu fördern ist im Sinne der multidisziplinären Grundstruktur, die sich als Schnittstelle darstellt zwischen Gesellschaft, Alltagsleben, Politik, Wirtschaft, Kultur und Kunst. Die Architektur als isoliertes Fach zu betrachten ist ungenügend. Eine gute Lehre würde Entwürfe ideologiekritisch hinterfragen, welche im Grunde dahingehend utopische Entwürfe sind, als dass sie den zukunftsorientierten Wunsch eines Subjekts widerspiegeln.
Die weiterhin gelebte Ignoranz der Architekturschaffenden der Ideologie und ihren Funktionsweisen gegenüber, bagatellisiert einen realen Aspekt der Branche. Jede kritische Auseinandersetzung mit Ideologie kann für die Gesellschaft nur hilfreich und weiterführend sein, da es bedeutet, dass eine gesellschaftszentrierte Entwicklung stattfinden kann und kein Stillstand Einzug hält. Die ideologiekritische Praxis als anwendungsorientierter und pragmatischer Stil, als Dirty Critique, kann eine neue Herangehensweise im Entwurf und als solche einen neuen Zugang zur Architektur darstellen.
Diese Impulse sollen einen neuen, ideologiekritischen Diskurs anregen, in dem die Rolle der Architektur, aber auch interdisziplinäre und ganz grundlegende allgemeine Begriffe neu verhandelt werden müssen, um der neoliberalen Realität gerecht zu werden. Die kritische Praxis muss bereits in der Architekturlehre gestärkt werden; ihre Notwendigkeit ist unausweichlich in Anbetracht des endlichen Raumangebots, das uns zur Verfügung steht. Meist gibt es in ideologiekritischer Architektur kein Entweder-Oder, sondern ein Auch, ein Trotzdem oder Dennoch; sie kommt selten in ihrer reinen Form daher, sondern ist allzu oft ein pragmatischer Kompromiss aus Kontext, Absicht und Möglichkeiten. Alternative Lösungswege müssen forciert werden, um die Deutungs- und Handlungshoheit in der Architektur wieder den Architekturschaffenden zurückgeben zu können.