18/09/2024

Die diesjährige Kulturhauptstadt Europas Bad Ischl Salzkammergut 2024 hat Baukultur zu einem ihrer Kernthemen gemacht. Im Rahmen der Programmlinie „Globalokal – Building the New“ ist auch das genreübergreifende Symposium „interventa Hallstatt 2024“ verortet, das sich von 19. bis 22. September der ruralen Baukultur widmen wird.

Brisante Themen der Baukultur anzusprechen ist ein großes Anliegen der Intendantin Elisabeth Schweeger. Die interventa also nach Hallstatt und damit dorthin zu verlegen, wo erfahrbar wird, wie das zum Weltkulturerbe gekrönte Städtchen gegen die fatalen Auswirkungen eines kontinuierlichen Besucher:innenansturms zu kämpfen hat, ist Teil der Intention, die man mit dem Symposium anstoßen möchte: die Wahrnehmung und Verantwortung für den ländlichen Raum schärfen. Schweeger bestellte die Architektin Marie-Therese Harnoncourt-Fuchs als Kuratorin, die Sabine Kienzer, Kulturmanagerin und Journalistin mit ins Boot holteGemeinsam haben die beiden Teilnehmende aus den Bereichen Architektur, Philosophie und Soziologie, Gastronomie, aus der bildenden und darstellenden Kunst, eingeladen, um zu diskutieren, klassisch, performativ, und unkonventionell. Partizipativ und humorvoll will man diverse Zielgruppen ansprechen. Vier Tage dreht sich alles um das Phänomen „rurale Baukultur“, das man einem breiten Publikum bewusst zu machen hofft. GAT News hat bei den beiden nachgefragt.

18/09/2024

Hallstatt, Häuser am Oberen Weg, interventa Hallstatt 2024 Foto: Julian Elliot Photography

Kuratorinnen der interventa Hallstatt 2024 Sabine Kienzer (Foto © Carla Degenhardt) und Marie-Therese Harnoncourt-Fuchs (Foto © architektur in progress)

_Die interventa Hallstatt 2024 findet als genreübergreifendes „Symposion zur Baukultur zwischen Tradition und Innovation“ erstmals statt, und möchte Zukunftsfragen zur Entwicklung des regionalen Raums rund um die Themen Landschaft, Architektur und Alltagsstrukturen stellen. Ein Format für Fachleute?

Marie Therese Harnoncourt-Fuchs (MTHF) Ein Symposium, das die baukulturellen Anliegen im ländlichen Raum thematisiert, soll alle und nicht nur ein Fachpublikum ansprechen. Wir möchten eine Bewußtseinskultur etablieren. Um die zu initiieren präsentieren und diskutieren wir wesentliche baukulturelle Anliegen über unterschiedliche Formate. Daher auch unsere interdisziplinäre Konstellation als Kuratorinnen.

Sabine Kienzer (SK) Unser sehr partizipatives, performatives Format will transdisziplinär und generationenübergreifend sein und Baukultur als holistisches Anliegen betrachten.

_Holistisch ist ein gutes Stichwort: Ihr habt auf unterschiedliche Weise mit Baukultur zu tun. Wie würdet ihr diesen Begriff näher definieren?

(SK) Mein Zugang ist jener der Benutzer:in. Mich interessiert, was in einer Architektur passiert – wie Menschen sich darin bewegen, in ihr leben, sprechen, kommunizieren, musizieren und konsumieren.

(MTHF) Als Architektin sehe ich im Diskurs über Baukultur den Aspekt der Gestalt als wesentlich und wie diese sich in Gebäuden, Siedlungsstrukturen bis zu landschaftsprägenden Infrastrukturen manifestiert. Auch angesichts des Klimawandels, der uns alle europa- und weltweit betrifft, ist Baukultur am ehesten holistisch kommunizierbar– nicht nur an alle Beteiligten – sondern an alle Betroffenen.

_Allerdings erschließt sich der Begriff Baukultur nicht allen. So sind Hallstätter:innen vielleicht als „Leidtragende“ eher sensibilisiert als Bewohner:innen einer x-beliebigen Stadt, die damit nicht unbedingt etwas anzufangen wissen. Viele setzen sich nicht einmal mit ihrem engsten Wohnumfeld auseinander. Für wen ist die interventa gedacht?

(SK) Sie soll für „alle“ zugänglich sein …

(MTHF)  und wesentliche, zukunftsweisende Themen der Baukultur aus unterschiedlichen Perspektiven interdisziplinär und unkonventionell anbieten.

_„interventa Hallstatt 2024“ als Aufforderung einzugreifen, einzuschreiten, zu intervenieren, mitzubestimmen?

(SK) Ganz genau. Den Titel haben wir nach vielen Gesprächen, viel Für und Wider und mithilfe eingeladener Meinungen von außen geboren und sind darüber sehr froh.

(MTHF) Wenn es uns gelingt mit der interventa Hallstatt 2024 eine radikale, interdisziplinäre Gesprächs- und Bewußtseinskultur anzuregen, können wir uns vorstellen, das Symposium wiederkehrend alle zwei Jahre zu veranstalten.

_Wie könnte man das Kernthema „Baukultur im ländlichen Raum“, das internationale Relevanz hat, näher definieren? Ortskerne veröden, Boden wird weiterhin versiegelt, man setzt auf Einkaufs- und Gewerbezentren am Ortsrand, Investoren fehlen, um Bestand weiterzubauen. Wohnraum ist rar, Mieten unerschwinglich, Absiedelung ist die Folge – auch in Hallstatt.

(SK) Das Salzkammergut ist eine repräsentative Region Europas. Das zeigt die interventa auch über die eingeladenen Architekt:innen und die Vertreter:innen weiterer Disziplinen auf. Das Phänomen Baukultur bietet relevanten Gesprächsstoff, aufgrund seiner Analogien und Differenzen. Überall lässt sich beobachten, dass die klare Trennung von Stadt und Land verschwimmt, die Abwanderung in beide Richtungen lässt sich auch als Zusammenwachsen lesen, als kontinuierliche ausufernde Erweiterung der Stadt. Wir stellen spannende weltweite best-practice-Beispiele vor.

_Wenn das Thema der ländlichen Baukultur ein international durchaus vergleichbares Phänomen darstellt, welchen Stellenwert nimmt das Salzkammergut auch angesichts der negativen Auswirkungen intensiven Tourismus ein?

(MTHF) Mit diesen Phänomenen haben ländliche Regionen weltweit zu kämpfen. Im Salzkammergut gibt es im Norden etablierte Industriestandorte, wo ein Bewusstsein geschaffen werden muss, dass Wachstum durch Leerstandsaktivierung und Nachverdichtung und nicht durch das Versiegeln neuer Flächen zu bewerkstelligen ist. Im Süden die historisch gewachsene Sommerfrische mit vielen Zweitwohnsitzen, die seit Corona und dem immer spürbarer werdenden Klimawandel an Beliebtheit gewonnen haben und neben anderen Problemen die Grundstückspreise für die Einheimischen in unerschwingliche Höhen treiben. Oder Hallstatt, das von Tagestouristen überrollt wird und mittlerweile eine jährliche Reduktion der Bewohner:innen zu verzeichnen hat. Die Themen sind vielfältig und komplex. Wir nehmen die erstmalige Ernennung einer Region zur Kulturhauptstadt ernst, im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung der unterschiedlichen Themen.

(SK) Wir möchten entsprechende Beispiele vorstellen, etwa mit der chinesischen Architektin Xu Tiantian, die auch den wunderbaren Begriff der „architectural acupuncture“ geprägt hat. Sie zeigt, wie eine von Abwanderung und Überalterung betroffene Region zu einer neuen Lebenswelt wurde, wie Abwanderung gestoppt wurde und ein „slow tourism“ Einzug gehalten hat.

(MTHF) Ein weiteres Beispiel, das überregional wirksame Lösungsansätze entwickelt hat, ist das Reallabor IBA Thüringen das Katja Fischer als deren Programm- und Projektleiterin bei der interventa vorstellen wird.

_Lernen vom anderen also und auf das Miteinander setzen.

(SK) Der holistische Zugang Xu Tiantian‘s „Akupunktur“ ist ein schöner Gedanke, überall dort „reinzustechen“, wo es wieder zu fließen beginnen soll. Wir haben hier ein Mobilitätsproblem, dort eines der Versiegelung, ein weiteres auf politischer Ebene. Alles wäre gemeinsam lösbar, oft fehlt nur die Vernetzung.

_Wie kann man auch Laien, Betroffene, interessierte Nicht-Experten oder Regionalpolitiker für das Thema sensibilisieren?

(MTHF) Es geht um eine Bewusstseinskultur, die sich entwickeln muss, bei allen politischen Playern und Verantwortlichen, auch in den Gemeinden. Wenn die Bevölkerung dies einfordert, ist Einiges möglich. Wichtig ist die Entscheidung, etwas tun zu wollen.

_Bei einem ersten Blick auf das Programm erschließt sich nicht, wie Tanz, Performance, Mode oder Kulinarik mit Baukultur in Verbindung zu bringen sind.

(SK) Als vertrauensbildende Maßnahme zeigen wir Lösungen, die nicht immer gesehen werden, über unterschiedliche breitgefächerte thematische Inhalte des Symposiums. Ein performatives Format erschließt etwa unterschiedliche Zugänge zum Thema Kreisläufe in der Architektur, Kulinarik und Mode: Mit der Architektin Christiane Sauer von der Berliner Weißensee-Uni, die innovative Materialkonzepte für Oberflächen entwickelt, wobei sie tradierte Einsatzmuster hinterfragt und Gebrauchsanweisungen für den Umgang mit Material neu denkt, oder mit Jochen Neustifter, einem auf Waste-Kitchen spezialisierten Haubenkoch aus dem Salzkammergut, der mit Schüler:innen von Hotelfachschulen das Kulturhauptstadt-Projekt „Wirtshauslabor“ bespielt, und mit Ute Ploier, der Leiterin von Fashion & Technology der Kunst-Uni Linz, die Mode mit einem starken Fokus auf nachhaltige Innovation betrachtet. Wir bringen die drei Disziplinen in einen Slot zusammen und machen das Thema begreifbarer.

_Wie könnte man Euer Hauptanliegen formulieren?

(MTHF) Sichtbar machen, wie anscheinend ganz unterschiedliche Bereiche unseres Alltags thematisch miteinander verbunden sind. Über eine Bewusstwerdung können wir von den verschiedenen Lösungsansätzen lernen, sie besser weiterentwickeln und vor allem auch jeder für sich in seinem Bereich einfordern und umsetzten. Eine Bewußtseinskultur für eine zukunftsfähige Baukultur von morgen an der jeder mitwirken kann.  

_Kann man schon sagen, etwa wie viele Regionalpolitiker an einer Teilnahme interessiert sind?

(MTHF) Wir wissen, das Interesse am Thema ist groß. Die Bürgermeister:innen aller 23 Kulturhauptstadt-Gemeinden wurden persönlich zum Symposium eingeladen. Wichtig ist uns jedoch vor allem ein vielfältiges, interdisziplinäres Publikum aus unterschiedlichen Altersgruppen und Regionen für das Symposium zu begeistern. Wir sind gespannt wer wann und wie lange kommen wird, denn jeder Tag bietet unterschiedliche Themenschwerpunkte und Formate. Die Vorträge und Diskussionen werden aufgezeichnet und sind online nachzusehen, das Erleben 1:1 vor Ort wird, so wie wir dieses Symposium konzipiert haben, aber das Wesen der Veranstaltung sein.

_Hallstatt, wo viele der Themen prägnant zu spüren sind, ist als allerdings als Veranstaltungsort nicht leicht erreichbar.

(SK) Absolut. Aber es schildert gleichzeitig die reale Situation, mit der wir es zu tun haben. Wenn man den Weg hierher auf sich nimmt, ist schon viel getan.

(MTHF) Wir rechnen mit rund 200 bis 300 Personen, verteilt über die vier Symposions-Tage. Zeit ist ein wertvolles Gut, wir schätzen daher das Interesse aller, die sich die Zeit nehmen, um an der interventa teilzunehmen.

_Es geht also um interdisziplinäres Kommunizieren und Netzwerken?

(SK) Auch unsere Suche nach Teilnehmenden ist interdisziplinär und im Sinne der schon erwähnten „Akupunktur“ erfolgt.

_Die Teilnahmegebühren des Symposiums sind bewusst niedrig gehalten, alle drei Tage kosten 100 Euro?

(MTHF) Dank der Finanzierung durch die Kulturhauptstadt können wir die Schwelle niedrig halten und gleichzeitig etwas Wertvolles bieten.

_Ungewohnte Formate, etwa die Umkehr der üblichen Fragen an die Vortragenden, sollen das Publikum anregen, Antworten zu liefern.

(SK) Wir erwarten ein kompetentes Publikum, das Antworten geben und neue Fragen stellen kann, viel Wissen hat und mehrere Perspektiven zu einem Thema eröffnet.

(MTHF) Und möchten alle involvieren, betroffen machen, darin bestärken, mitreden zu können.

(SK) Die eigene Verantwortung soll geweckt werden. Um zu verändern, muss man selbst etwas tun, gemeinsam.

(MTHF) Es soll ohne dogmatisch zu sein, eine spannende, lustvolle, informative und inspirierende Erfahrung werden.

_Es ist zu hoffen, dass es der interventa gelingt, ein Handeln anzuregen.

(SK) Wenn die interventa Fragen aufwirft und dazu Antworten lukrieren kann, haben wir schon etwas richtig gemacht und unser Ziel erreicht.

(MTHF) Der Druck muss von allen kommen. Auf die Entscheidung der Politiker:innen zu warten, genügt nicht mehr. Wir möchten Hellhörigkeit erzeugen und durch dieses Symposium etwas auslösen, dass weitergetragen und gelebt wird. Ein Versuch, eine nachhaltige Veränderung in der Betrachtung der Dinge anzustoßen.

Mehr zur interventa Hallstatt 2024

Teilnehmer:innen sind u. a. die chinesische Architektin Xu Tiantian, die deutsche Philosophin und Historikerin Ulrike Herrmann, Yasmeen Lari, eine Pionierin der pakistanischen Architektur, der österreichische Energiewissenschaftler Keywan Riahi, die slowenische Architektin Špela Videčnik, die Biologin und Schriftstellerin Andrea Grill, Konrad Frey, ein Pionier der österreichischen Architektur, die Kulturwissenschaftlerin Karin Harrasser, der niederländische Stadtplaner Ton Matton, die Modedesignerin Ute Ploier, weiters die Architekten Georg Driendl, Kjetil Trædal Thorsen sowie der Haubenkoch Jochen Neustifter und die Architektinnen Christiane Sauer, Kathrin Aste und Anna Heringer.
„interventa Hallstatt 2024“ ist eines der Hauptprojekte der Programmlinie GLOBALOKAL – Building the New der Kulturhauptstadt Europas Bad Ischl Salzkammergut 2024. 

Das Symposion findet in deutscher und englischer Sprache statt.

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